„Lebenslang lernen darf keine Worthülse sein“

■ Ein Gespräch mit Ursula Herdt, Vorstandsmitglied der GEW in Frankfurt

taz: Weiterbildung wird immer wichtiger. Ist die 4. Säule des Bildungssystems darauf vorbereitet?

Ursula Herdt: Weiterbildung ist in der Realität noch nicht die 4. Säule des Bildungssystems. Es gibt zwar ein großes Angebot, viele Teilnehmer, aber praktisch keine Standards für Zugang und Qualität. Vieles findet in den Betrieben statt. Wer nicht zum Betrieb gehört, hat natürlich den Zugang nicht. Ganz zu schweigen von den Arbeitslosen. Zudem gibt es in vielen Bereichen, Regionen und für bestimmte Zielgruppen nur unzureichende oder keine Angebote. Und nach dem Arbeitsförderungs-Reformgesetz werden die Zugangsmöglichkeiten eher enger als weiter.

Suggeriert die euphorische Rede vom lebenslangen Lernen eine (Arbeitsplatz-)Sicherheit, die Weiterbildung nicht garantieren kann?

Der Begriff ist ein Beispiel für die Kluft zwischen Worthülsen und Realität. Man kann ja nichts gegen lebenslanges Lernen haben, aber es fehlen in der Weiterbildung die Voraussetzungen dafür, daß alle das auch wahrnehmen können. Dabei wird Weiterbildung noch wichtiger: Nach vielen Prognosen werden sich künftig Phasen von Voll- und Teilerwerbstätigkeit, von Selbständigkeit und Scheinselbständigkeit, von Familienzeiten und von Weiterbildung abwechseln. Daher muß Weiterbildung erst recht einen festen Platz bekommen, systematischer werden, es muß ein Anspruch auf Weiterbildung bestehen.

Bildungsminister Rüttgers ruft zu „selbstorganisiertem Lernen“ auf. Aufklärerische Tradition oder Kapitulation vor den Anforderungen einer modernen Steuerung von gesellschaftlichen, betrieblichen und individuellen Lernprozessen?

Selbstgesteuertes Lernen läuft informell im Rahmen der Arbeit ab, mit Blick auf Multimedia bekommt es neue Funktionen. Doch die Forderung wird für politische Zwecke im Sinne des Neoliberalismus instrumentalisiert. Sie muß als Begründung dafür herhalten, daß organisierte Angebote in der Weiterbildung eher abgebaut werden. Interview: Matthias Steube