Was heißt denn hier „sozial“?

■ Alte Werte für eine neue Politik Einladung zur politischen Debatte: Eine parteiübergreifende Initiative präsentiert in der taz fachpolitische Konzepte als Angebot für öffentlichen politischen Streit Thema 6: Sozialpolitik

er Jung“sagte: „Mensch, Tante Käthe, die Welt ist schlecht!“Tante Käthe sagte: „Nee, min Jung, die Welt ist nicht schlecht, die Menschen sind schlecht!“„Dor hest ok wedder recht, Tante Käthe!“

All denjenigen, die das nicht verstehen, sagt Peter Koslowski in „Der soziale Staat der Postmoderne“: „Der Staat ist ... auf 'Sittlichkeit' angewiesen; dieses gilt für keinen Bereich staatlichen Handelns stärker als für Sozialpolitik, wo die Bedürftigkeitsdefinition stets auch von ethischen Zumutbarkeits- und Fairneßvorstellungen abhängig ist. Die ethischen Grundlagen der Sozialpolitik bestehen ... in der moralischen Einhaltung von Regeln, dem Nichtausnutzen von Lücken im Gesetz und in Haltungen, die ohne individuelle Gewissensentscheidungen nicht denkbar sind.“

Die Plädoyers von Tante Käthe und von Peter Koslowski sind ebenso altmodisch wie klar: Kein Verlaß auf die sogenannten Strukturen, es kommt auf den Einzelnen an. Nun soll in diesem Beitrag beileibe nicht versucht werden, dem Liberalismus als der Religion der gemeinsam einzeln Wartenden das Wort zu reden. Im Gegenteil, Haltungen sind gefragt. Haltungen als Verkörperung verantwortungsbewußten Handelns sind nicht das Ergebnis von Mehrheitsentscheidungen und Minderheitenvoten, sondern deren Voraussetzung. Sie sollen im politischen Alltag verdeutlichen, ob Vertrauen gerechtfertigt ist. Daß Sozialpolitik einen besonderen Vertrauensvorschuß benötigt, versteht sich aufgrund ihres an sich präventiven Charakters von selbst.

Es scheint gegenwärtig legitim, dem „Gegenstand“von Sozialpolitik, nämlich Menschen, die Hilfe erwarten oder benötigen, die Beweislast dafür naßforsch anzuhängen. Eigenverantwortlichkeit gilt als die Tugend, die den „unbezahlbaren“Wohlfahrtsstaat von seinen Problemen befreien soll. Die Forderung nach Eigenverantwortlichkeit richtet sich üblicherweise vor allem an Hilfesuchende, an PatientInnen, an alte Menschen, eben an diejenigen, denen die Politik empfiehlt, dafür zu sorgen, daß sie all dies nun besser nicht werden sollten, und wenn es sich schon nicht verhindern läßt, dann wenigstens in eigener Verantwortung.

Wir erwarten und fordern diese Eigenverantwortlichkeit als Haltung für den täglichen Hausgebrauch zu allererst von den PolitikerInnen, vor allem von SozialpolitikerInnen.

Zumutbarkeit und Fairneß, Mitleid, individuelle Gewissensentscheidungen und Gewissensmoral sind Begriffe und Haltungen, die innerhalb einer ausschließlich sozialtechnisch orientierten Sozialpolitik nahezu unhörbar geworden sind. Wir vermissen in maßgeblichen politischen Äußerungen Haltungen, die der zwanghaften Ökonomisierung des sozialen, geistigen und kulturellen Lebens vorbildlich und glaubwürdig etwas entgegenzusetzen haben.

Ethik – Mitleid – Lebensqualität

Natürlich wüßten wir gern, was Tante Käthe dazu gesagt hätte. Wir haben stellvertretend drei BürgerInnen nach ihrer Definition der Begriffe Ethik, Mitleid und Lebensqualität befragt. Es haben geantwortet:

Die ehrenamtlich tätige 45jährige Hausfrau und Mutter: „Für mich vereinen sich in Ethik menschliches Handeln und sittliche Grundsätze. Unter Mitleid verstehe ich verständnisvolles und einfühlsames Zuhören. Ich denke, daß zur Lebensqualität in erster Linie gesicherte Lebensgrundlagen, ausreichende Arbeits- und Wohnbedingungen, gute Bildungschancen und eine soziale Umwelt gehören.“

Die 80jährige Rentnerin: „Für mich hat Ethik mit dem Handeln von Menschen und ihrem Gewissen zu tun. Mitleid heißt für mich, sich mit dem Leid und den Nöten von Mitmenschen zu befassen und nachzuempfinden, wie sie fühlen und erleben. Unter Lebensqualität verstehe ich selbstbestimmtes Leben in Freiheit und Unabhängigkeit, soweit Mitmenschen dadurch nicht eingeschränkt werden.“

Der 40jährige Angestellte: „Ethik ist ein Begriff aus dem vorigen Jahrhundert, der heute im Arbeitsleben keinen Platz mehr findet. Mitleid kann ich mir nur in der Freizeit leisten, was ich persönlich bedaure. Lebensqualität heißt für mich eine befriedigende gutbezahlte Arbeit, um sich Bequemlichkeiten des Lebens kaufen zu können.“

So unterschiedlich diese Aussagen sind: Es geht um die Wiederherstellung eines an Ethik, Mitleid und Lebensqualität orientierten Klimas.

Fortschrittliche Sozialpolitik muß deshalb geprägt sein durch die parteiliche Unterstützung der BürgerInnen, die aus durchschnittlichen ökonomischen und sozialen Lebenszusammenhängen ausgegrenzt werden. Fortschrittliche Sozialpolitik muß sich für eine materielle Grundsicherung einsetzen, damit BürgerInnen überhaupt (wieder) die Möglichkeit erhalten, an der Gesellschaft teilzunehmen.

Fortschrittliche Sozialpolitik muß Isolation von BürgerInnen verhindern, um der Entstehung von Subkulturen (Sekten und Gewaltkulturen) keine Chance zu lassen.

Fortschrittliche Sozialpolitik muß sich gegen die Verfälschung sozialer Not als individuelle Charakterschwäche und gegen entsprechende Schuldzuweisungen wehren. Sie muß sich wenden gegen das Gegeneinanderausspielen von betroffenen Gruppen; sie muß solidarische Formen der Problemlösung und der Auseinandersetzung erlernen helfen.

Fortschrittliche Sozialpolitik muß Einsichten in die gesellschaftlichen Ursachen von Benachteiligung vermitteln. Sie muß nach den Gemeinsamkeiten suchen, die den Problemen der BürgerInnen zugrunde liegen, und Beteiligung und Mitwirkung fördern.

Aus diesen Anforderungen sollen nun Werte für die Sozialpolitik entwickelt werden.

Was ist sozial?

Je mehr wir darüber nachdenken, welche Utopien wir für eine neue Sozialpolitik haben, desto mehr kommen wir auf alte Forderungen zurück. Wir möchten anknüpfen an zweihundert Jahre alte Ideale: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – die Trikolore der Französischen Revolution.

Wessen Freiheit ist die Freiheit? Die größte Freiheit hat derjenige, der möglichst viele Möglichkeiten hat. Sozialpolitik kann dazu beitragen, daß möglichst viele Menschen möglichst viele Möglichkeiten haben. JedeR Einzelne muß unterschiedliche Lebensentwürfe machen und ändern können – und dies mit Risiken und Chancen, aber ohne die Gefahr, bei Krisen ins Bodenlose zu fallen. Freiheit bedeutet zum Beispiel, sich dafür entscheiden zu können, als Vater oder Mutter zeitweise ausschließlich für Kinder da zu sein; oder sich entscheiden zu können, gleichzeitig für Kinder da zu sein und den Beruf auszuüben. Freiheit bedeutet, sich entscheiden zu können für freie, selbst gestaltete Zeit und dafür, auf Einkommen zu verzichten, oder für ein volles Berufsleben mit Karriereambitionen und Geldverdienen. Freiheit bedeutet, für die eigenen Entscheidungen einzustehen, selbst verantwortlich zu sein.

Kein Mensch gleicht dem anderen. Gerade die Unterschiede und das Neue, Außergewöhnliche machen uns selbst, andere Menschen und damit das Leben erst interessant. Gleichheit bedeutet Gleichwertigkeit: Alle Menschen sind gleich an Würde, gleichwertig in ihrer jeweiligen Individualität. Gleichheit bedeutet, für gleiche Startchancen zu sorgen und unterschiedliche Chancen auszugleichen. Gleichheit bedeutet, jeden einzelnen Menschen in seiner Würde als gleichberechtigt anzuerkennen und keinen in seinen Chancen zu beschneiden. Eine so orientierte Sozialpolitik verhindert Ausgrenzung, sie sichert Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft. Dazu gehört auch eine angemessene Teilhabe am Reichtum unserer Gesellschaft.

Brüderlichkeit als Kernpunkt des Sozialen bedeutet das Einstehen für den Nächsten, ganz gleich, warum dieser schwach oder hilflos ist. Jeder Mensch muß sich darauf verlassen können, daß ihm selbstverständlich geholfen wird, ohne offenen oder versteckten Schuldvorwurf oder Zwang. Brüderlichkeit ist Hilfe zur Eigenständigkeit, ist Hilfe, über das eigene Leben wieder frei bestimmen zu können. Dabei muß jedeR davon ausgehen können, daß Grundbedürfnisse wie Essen, Wohnen, Kleidung, sozialer Kontakt und soziale Integration in jedem Fall gesichert sind, daß jedem, auch nach Fehlern und Zusammenbrüchen in der Vergangenheit, neue Chancen und Möglichkeiten für unterschiedliche Lebensentwürfe eingeräumt werden. Ob und wie diese Chancen genutzt werden, steht in der Entschei-dungsfreiheit des Einzelnen; Brüderlichkeit heißt nicht, dem Nächsten diese Freiheit der Entscheidung abzunehmen.

Die LeserInnen werden sagen: Viel zu abstrakt – was heißt das für die aktuelle, von Finanzkrisen geschüttelte Sozialpolitik? Aber sind dies nicht nach wie vor gute Leitlinien, wenn es um konkrete Veränderungen im Sozialen geht, um Fragen der Familienpolitik, um Eingliederungshilfen für Behinderte, um die materielle Sicherung und Integration von AusländerInnen, um die Bekämpfung von Armut und Ausgrenzung?

Eine neue Solidarität: Gemeinsinn stiften

Wie werden diese alten und zugleich neuen Werte Realität? Ist nicht der Trend eher gegenläufig? Gehen uns Gemeinsinn und Solidarität verloren, das „Für einander Einstehen“, dem der Sozialstaat seine Entstehung verdankt? Die einst erkämpften, jetzt etablierten Sozialsysteme werden als anonym und wenig zukunftssicher erlebt.

Es wäre jedoch vorschnell, daraus auf eine generelle Abnahme von Hilfsbereitschaft und Solidarität zu schließen. Die Sozialforschung belegt das Gegenteil: 38% der Deutschen sind zu bürgerschaftlichem Engagement bereit (Geislingen-Studie von 1995). Unsere Nachbarn in Holland, Dänemark und anderswo zeigen uns, wie das geht: Interessante Felder anbieten, Unterstützung absichern, Engagement anerkennen und überschaubar gestalten.

Solches Engagement macht Spaß und bringt Menschengruppen miteinander in Kontakt, die sich sonst kaum begegnen und wenig voneinander wissen und voneinander halten. Bürgerengagement wirkt auf die Gemeinschaft und den einzelnen zurück, indem es Verantwortungsbereitschaft praktisch demonstriert und als soziales Lernfeld hilft, neue Formen des Zusammenlebens zu erproben. Es erweitert damit die Wertvorstellungen und Handlungsmöglichkeiten der Menschen.

Das Potential für eine neue, freiwillige Solidarität ist also da. Sozialpolitik hätte dabei die Aufgabe, Menschen zusammenzubringen, ihnen Anstöße zu geben und Räume zu schaffen (auch im Wortsinn), zu unterstützen, ohne zu bevormunden. Und zwar nicht als sozialarbeiterische Hilfestellung im Sinne von „Für-Sorge“, sondern als Einlösung von Demokratie und Selbstbestimmung. Selbstverwaltete Krabbelgruppen gibt es schon – warum sollen nicht auch Kindergärten, Schulen, Altenbegegnungsstätten usw. viel stärker von Betroffenen selbst verwaltet werden? Hier kann Sozialpolitik wieder zur gesellschaftsgestaltenden Politik werden.

Allerdings: Es müssen einige Bedingungen erfüllt sein, damit Bürgerengagement entstehen und sich entfalten kann:

Bürgerengagement braucht kompetente Menschen. Es gibt aber in unserer gegenwärtigen Arbeitsgesellschaft zu wenige Alternativen zur bezahlten Arbeit als Ort der sozialen, kommunikativen und materiellen Kompetenzentwicklung. Arbeit muß besser verteilt und neu gedacht werden.

Bürgerengagement braucht Zeit. Vollzeitbeschäftigung und familiäre Sorgearbeit lassen wenig Raum für weitere Aktivitäten. An die zwei Schichten einer vollbeschäftigten Mutter läßt sich keine dritte „Engagementschicht“anfügen.

Bürgerengagement braucht Räume, Rechte und Ressourcen. Wenn Menschen stärker füreinander einstehen sollen, brauchen sie Räume des Zusammentreffens, in denen sie ihre individuellen Interessen ausdrücken können und durch das Zusammentreffen mit anderen neue Qualitäten von Unterstützung und gegenseitiger Entlastung entwickeln. Aber auch Rechte auf Mitgestaltung und Beteiligung sind nötig, ebenso wie Ressourcen z.B. für Auslagenerstattung, Versicherungen, Fortbildung und professionelle Unterstützung.

Der Sozialstaat braucht Bürgerengagement. Und das Bürgerengagement braucht den Sozialstaat. Denn erst der Sozialstaat macht Engagement möglich. Daß in Selbsthilfegruppen, selbstorganisierten Vereinen und Verbänden gerade diejenigen aktiv sind, die nicht ums tägliche Überleben kämpfen müssen, sondern auch in biographischen Krisen abgesichert sind, ist kein Zufall.

Karl Bronke

Albrecht Lampe

Hiltrud Lübben-Hollmann

Gerd Wenzel

Die Arbeit an diesem Artikel hat uns neue Kontakte geschaffen und Anregungen für unsere Arbeit gegeben. Wer Lust hat, ihn mit uns zu diskutieren, ist herzlich dazu eingeladen für Dienstag, den 28. April 1998 um 19 Uhr ins Bandoneon, Gertrudenstraße