Professionelle Störer

taz-Serie „Intellektuellendämmerung“: Der Intellektuelle als Moralist ist tot. Als Definierer löst er sich vom Ideal des Künstlers und nähert sich dem des Unternehmers  ■ Von Heinz Bude

Kritik ist der Beruf des Intellektuellen. Dafür beansprucht er ein besonderes Rederecht in der Öffentlichkeit. Wo sich nur bestellte Jasager und angestellte Neinsager äußern dürfen, existiert keine Öffentlichkeit, in der die Befindlichkeiten, Zustände, Probleme und Spannungen einer Gesellschaft zum Ausdruck kommen. Doch was Kritik ist und wie man Kritik macht, darüber bestehen unter Berufskritikern erhebliche Differenzen. Nach einem Vierteljahrhundert intellektueller Selbstkritik dürfte lediglich klar sein, daß das nicht mehr in Form eines repräsentativen Sprechens geht, bei dem ein „humanistischer Intellektueller“ sich für die Unterdrückten und Beleidigten einsetzt oder ein „universeller Intellektueller“ eine unbemerkte Wahrheit ans Licht bringt. Wer sich trotzdem in der Pose des großen Moralisten oder letzten Rationalisten gefällt, macht sich schnell lächerlich. Das einzige, was notwendig zur Rollenausstattung des Intellektuellen gehört, ist sein Wirken als Störfaktor. Darauf beruht der kritische Impuls.

Joseph A. Schumpeter hat in seiner berühmten Soziologie des Intellektuellen von 1942 die Bedingungen einer störenden Rede herausgestellt. Intellektuelle unterscheiden sich von anderen Leuten, die sich von Berufs wegen des gesprochenen oder geschriebenen Worts bedienen, durch zwei merkwürdige Eigenschaften: Sie zeigen sich ziemlich unbekümmert, was die Verantwortlichkeit für praktische Dinge betrifft, und sie legen eine ärgerliche Kenntnislosigkeit in bezug auf Erfahrungen aus erster Hand an den Tag. M. Rainer Lepsius hat das später so in die bündige Formel übersetzt, daß der Intellektuelle „inkompetente, aber legitime Kritik“ betreibt.

Aber warum finden diese leichtfertigen und ahnungslosen Redner in der Öffentlichkeit überhaupt Gehör? Der Stachel einer intellektuellen Intervention rührt von einem bestimmten transzendenten Effekt der Rede. In jedem wirklich störenden intellektuellen Kommentar scheint eine Haltung, eine Methode, ein Modell auf, das über den konkreten Anlaß und das spezifische Problem hinausweist. Der Intellektuelle ist mehr als ein bloßer Störer, er verkörpert eine bestimmte Stellungnahme zur Welt, die das System der alltäglichen Selbstverständlichkeiten und bindenden Gewißheiten durchbricht. Der Aufforderungscharakter der intellektuellen Kritik liegt darin, daß sie einen wunden Punkt unseres Selbstverständnisses trifft. Sie fordert den Hörer oder Leser auf, sich zu sich selbst zu verhalten.

Hier möchte ich zwei Methoden intellektueller Kritik kennzeichnen, in denen sich unterschiedliche Erfahrungskomplexe und Existenzmodelle reflektieren: Ich nenne die eine die Methode des Entkommens und die andere die Methode des Definierens. Damit verbindet sich eine These zur „geistigen Situation der Zeit“: Ich behaupte, daß störende intellektuelle Kritik heute von Haltungen des Sich-Rettens zu solchen des Sich- Festlegens übergehen muß.

Von Adorno herkommend bemißt sich die Wahrheit und der Wert eines intellektuellen Kommentars daran, ob er sich der Anstrengung eines Begriffs vom Ganzen unterzieht. Das Ganze ist unsere Welt, die man seinerzeit als spätkapitalistisch begriffen hat und jetzt wohl besser als spätmodern bezeichnet. Der leitende Begriff dieser Welt ist der der Gesellschaft, in dem das Prinzip der Vermittlung zum absoluten Gesetz gemacht wird. Es gibt nichts unter der Sonne, das nicht gesellschaftlich vermittelt ist. Nicht die Natur, nicht der Mensch, nicht die Seele und schon gar nicht die Sexualität und am Ende nicht das Geschlecht. Wer diesem unerbittlichen gesellschaftlichen Prinzip auf die Spur kommen will, kann sich nicht an die säuberlich getrennten Disziplinen des Wissens halten, der muß sich mal als Literatur-, mal als Musikkritiker, mal als Ökonom, Soziologe oder Philosoph geben, selbst die Wissenschaften der Seele und des Körpers dürfen ihm nicht fremd bleiben.

Eine ganze große Generation von Nachkriegsintellektuellen ist Adornos Vorbild gefolgt, weil im Antidisziplinären seiner Methode ein existentielles Motiv verborgen war: Den Punkt zu erwischen, wo der beschädigte einzelne dem universellen Zwangszusammenhang entkommen konnte. Es handelt sich um eine Methode des Überlebens, deren Geheimnis darin besteht, sich dem Maelstrom der Gesellschaft zu ergeben, um des richtigen Augenblicks für den Sprung ins Leere gewahr zu werden.

In Adornos Bild gleicht sich der Intellektuelle dem Künstler an, der im disparaten Material eine Regel der Dissonanz entdeckt. Daher die Präferenz für die rhapsodische Form und den essayistischen Stil. Aber die Welt in der Form des gesellschaftlichen Systems ist sowieso nicht mehr zu retten, weshalb jeder intellektuelle Kommentar im Prinzip zu kurz greift und zu spät kommt. Die gültigen Modelle des Entkommens sind in der Kunst zu finden, die das Scheitern riskiert und sich dem Nullpunkt aussetzt. Dieser methodische Negativismus macht die intellektuelle Tätigkeit zu einem gleichermaßen gefährlichen wie vergeblichen Tun. Der Intellektuelle kann nur noch darauf hoffen, daß das Ganze sich nicht völlig schließt und die Erinnerung an die rettende Differenz von Individuum und Gesellschaft nicht überhaupt verschwindet.

Mit etwas Abstand könnte man Adornos intellektuelles Modell als Spätprodukt einer langen Entwicklung sehen, die von einer Komplexitätssteigerung des gesellschaftlichen Systems trotz zivilisatorischer Brüche gekennzeichnet war. Faschismus und Kommunismus traten als Alternativen zum Kapitalismus auf, brachten am Ende aber nur die Barbarei voran. Die Erfahrung der Alternativlosigkeit dieser ganzen Entwicklung begründete für die Generation Adornos die konstitutive Verzweiflung des Intellektuellen. Zwar konnte sich die Form der negativen Dialektik noch bis in die siebziger Jahre der Nachkriegszeit auf eine soziale Atmosphäre der Feindseligkeit dem Kapitalismus als Lebensform gegenüber stützen, doch daß die von Marx in Aussicht gestellte Verwirklichung der Philosophie versäumt wurde, bildete den unüberwindbaren Ausgangspunkt aller Kritik.

Inzwischen ist Niklas Luhmann in die Fußstapfen Adornos getreten. Der Systemtheoretiker beherrscht wie kein anderer das feine Instrumentarium des heillosen dialektischen Denkens, was andererseits die unverminderte Suggestionskraft der Adornoschen Erfahrungskonstellation eines Widerspruchs zwischen einer unbeherrschbaren gesellschaftlichen Selbstorganisation und dem verlorenen individuellen Glücksverlangen beweist. Nur fehlt Luhmanns Systemtheorie der rebellische Erfahrungsbegriff von Adornos Essayistik. Während Luhmann dem Intellektuellen empfiehlt, sein Bewußtsein für funktionale Äquivalente offenzuhalten, um sich nie mehr enttäuschen lassen zu müssen, sucht Adorno den Sturz, der eine Unterbrechung des ewigen Weitermachens bedeuten könnte. Gemeinsam ist beiden freilich die Methode des Negativismus: Luhmann formuliert nur ironisch, was für Adorno sich noch tragisch sagen ließ.

Allerdings hat diese Methode der Kritik in der einen wie in der anderen Variante ihre Plausibilität verloren. Vom höchsten Wahrheitsanspruch ist ein manieristisches Spiel mit Tautologien und Paradoxien übriggeblieben. Luhmanns Dauerreflexion aufs Beobachten verwandelt das Projekt der Gesellschaftskritik in ein erkenntnistheoretisches Unternehmen und endet bestenfalls in einem freundlichen konstruktivistischen Buddhismus, der die Erfahrungsleere zum Prinzip erhebt. Das mögen die alternden Freunde der Dialektik vielleicht noch goutieren, aber eine intellektuelle Störung geht davon nicht mehr aus.

1989 bedeutet auch in diesem Fall das Ende einer Geschichte. Die Rückkehr zum ersten Weg der Moderne hat eine für Modelle intellektueller Kritik entscheidende Veränderung der Verhältnisse mit sich gebracht: Der Kapitalismus ist nicht mehr Schicksal, sondern Projekt. Besonders die europäische Erfahrung vom notwendigen Aufbau einer kapitalistischen Welt im ehemaligen Ostblock hat die Intellektuellen plötzlich in ein experimentelles Universum geworfen. Man erwartet Vorschläge, wie es besser zu machen sei und intelligenter einzurichten wäre. So erweist sich der „neue Osten“ für den „alten Westen“ vor allem als ein intellektuelles Problem. Es wächst das Bewußtsein für eine konstruktive Wende in den Modellen, Methoden und Haltungen intellektueller Kritik. Wer sich hier nur retten will, verspielt sein Rederecht in der Öffentlichkeit.

An der Zeit sind intellektuelle Strategien der Definition in experimenteller Absicht. Die Formen der Kritik aus Enttäuschung haben sich genauso überlebt wie das existentielle Motiv zu entkommen. Dem Bewußtsein universeller Vermitteltheit stellt sich das „Prinzip der Nicht-Ableitung“ (Bruno Latour) entgegen, das dem Wissen wieder seine eigene Dignität und Verantwortung zurückgeben will. Appellative Begriffe wie Objektivität, Realität, Rationalität, Wahrheit oder Fortschritt können dann weder als Täuschungen denunziert noch als Garanten eines Privilegs hochgehalten werden. Intellektuelle Definitionen stehen immer unter dem Zeichen des Risikos, aber sie bilden einen möglichen Ausgangspunkt, den aus allen Ecken und Enden der sozialen Welt kommenden Projekten, Berufungen, Träumen und Überzeugungen einen Zusammenhalt zu verleihen.

Der Intellektuelle als störender Definierer löst sich vom Ideal des Künstlers und gleicht sich dem des Unternehmers an. Unternehmerisches Handeln, so die berühmte Formel von Schumpeter, verwirklicht sich in der Durchsetzung neuer Kombinationen auf dem Markt und in der Gesellschaft. Das Kombinatorische verweist den Intellektuellen aufs Vorfindbare, das Motiv der Durchsetzung macht ihn zum gesellschaftlichen Energieträger, und der Leitgesichtspunkt des Neuen verpflichtet ihn auf eine Politik des Experiments. Die so verstandene intellektuelle Praxis des Definierens wirft immer eine politische Frage auf: Die Mobilisierung von Verbündeten für eine Definition von Wirklichkeit. Jede Definition stellt einen kontingenten Neubeginn unter anderen Gegebenheiten dar und enthält die Aufforderung, sich an einem offenen Prozeß des Herumprobierens und Verhandelns zu beteiligen.

Der unternehmerische Experimentalismus ist vor allem gegen den relativistischen Skeptizismus gerichtet, der nur mühsam seine Abkunft vom schroffen Wahrheitsheroismus verbergen kann. Den Intellektuellen als Unternehmer zeichnet aus, daß er sich gegen alles auflehnt, was das, was ist, mit dem, was sein muß, in eins setzt. Nachdem der Künstler als Erneuerer der Wirklichkeit ausgedient hat, ist der Unternehmer zum Agenten des Neuen in einer Welt ohne große Alternative geworden. Weil wir am Ende einer katastrophischen Geschichte von anderen Wegen aus der Moderne stehen, kann die Geschichte wieder beginnen. Da hat der Intellektuelle seinen hergebrachten Platz: als Störer von Gewißheiten und als Antreiber von Experimenten.