Pendelverkehr für die „global player“

Mit der Ausstellung „Mastering the City“ läßt das niederländische Architekturinstitut in Rotterdam „100 Jahre Stadtplanung in Nordeuropa“ Revue passieren. Die Entwicklung geht zu mehr „Themenpark-Urbanismus“ und immer weniger sozialem Bewußtsein  ■ Von Jochen Becker

In der Ausstellungshalle steht ein Kugelkino aus Holz und Plastik. Dort läuft der Einführungsfilm zu „100 Jahre Stadtplanung“, und man sieht einen Spielplatz. Sorglose Kids tollen im „Rappelkisten“-Stil der 70er Jahre wildhämmernd herum. Doch bald folgt das Stichwort „Internet Shopping“, und wir sind wieder in der schnöden Gegenwart gelandet.

Wäre die Ausstellung „Mastering the City“ im Niederländischen Architekturinstitut Rotterdam doch so ausgelassen und umherschweifend wie das einleitende Video. Statt dessen folgt eine Darstellung von vier europäischen Ballungszentren, die in begehbare Podeste eingelassen sind. Los geht es mit einem Modell von Berlin, dem das „Operatie Berlin“-Video zur Seite gestellt ist. Dort werden die üblichen Verdächtigen vorgeführt, und man sieht Planungschef Hans Stimmann vor „seinem“ Planwerk Innenstadt sitzen, während sich die anderen ausgestellten Ballungszentren schon längst vom blockgenau niedergelegten Kartenmaterial verabschiedet haben. Allein Berlin greift auf das klassische Mittel Modell/Plan zurück, wobei Entwicklungsszenarien oder Sozialdaten ganz unter den Tisch fallen.

Mit autoritärem Durchsetzungswillen hatte bereits Charles de Gaulle die ersten Nouvelles Villes rund um Paris durchgefochten. Nun wird uns per Computergrafik eine französische Neubaugemeinde im Grünen nahegebracht, bei der man die Bäume von 1990–2020 wachsen sehen kann. Die Ausstellung verdeutlicht, daß Szenarien und Strategien gebraucht werden, um Agglomeration überhaupt noch steuern zu können. Die Internationalen Bauausstellungen für West-Berlin 1987 und das Ruhrgebiet 1999 haben darin Modellcharakter erlangt. „Eine der bemerkenswertesten Ergebnisse bei der IBA war die enorme intellektuelle Investition in den Prozeß für den Vorbereitungs-, Leitungs- und Produktionsplan, was eine Welle von Theoriewerken und Publikationen hervorrief“, beschreibt Barbara Kündiger im Katalog die Berliner Situation.

Nicht Verbote und Richtlinien, sondern neue Möglichkeiten und diskursive Prozesse führen weiter. Das nach dem Fall der Mauer in der Berliner Architekturdiskussion anvisierte Dogma von der „Kritischen Rekonstruktion“ hingegen steht in der Tradition alter Meister: „Die Evolution von der IBA zum Planwerk kann charakterisiert werden als eine vom Dialog zum Monolog.“

Unter der Leitung der Architekturdozentin Koos Bosm haben KorrespondentInnen die umfangreiche Ausstellung sowie das Material für eine zweibändige Publikation zusammengetragen. Sie umfaßt exemplarische Stadtplanungen in West-, Nord- und dem sozialistischen Europa, insgesamt dienen 24 streng geordnete Masterpläne zur Übersicht. Jede Stellwand umfaßt Originalkarten, Artikel, erklärendes Bildmaterial. Es liest sich jedoch besser im Katalog. Abgesehen von den vier exponierten Ballungsräumen stammt der letzte detailliert geschilderte Masterplan zum Siedlungsprojekt Almere bei Amsterdam von 1977. Warum aber die europäische Metropole Brüssel mit ihren explodierenden Behördenbauten, einer am Autobahnring sprießenden Gewerbeentwicklung und damit einhergehenden sozialen Verwüstungen nicht genauer berücksichtigt wurde, bleibt rätselhaft.

Seit Ende des Zweiten Weltkriegs war neben dem als „Wiederaufbau“ praktizierten Umbau der Innenstädte die Stadtrandwanderung bis hin zum Bau von entfernt gelegenen „Entlastungsstädten“ von zunehmender Bedeutung. Autobahnen, Zuggleise, Kurzsstreckenflüge oder Datenleitungen bilden Nabelschnüre zu oder zunehmend auch zwischen den Satellitenstädten – häufig sogar unter Auslassung der alten Metropolen.

Die durchschnittlichen Pendlerdistanzen bewegen sich in Norwegen von 15 Kilometer 1955 hin zu 31 Kilometern 1988 und werden wohl bis 2010 auf 45 Kilometer ansteigen. Für den Großraum Berlin oder Greater London wuchsen Nouvelles Villes in gehöriger Distanz zum alten Stadtkern, für Paris sollte man neuerdings auch EuroDisney hinzurechnen. Doch aktuelle Entwicklungen – etwa die Herausbildung von Urban Entertainment Centern (SI Stuttgart, Potsdamer Platz, Amsterdam Arena) oder neuartige Stadtstrukturen an Verkehrsknoten (EuraLille, Flughafen Frankfurt/Main) finden in der Ausstellung keinen bildkräftigen Niederschlag.

Der privatwirtschaftlich angefeuerte „Themenpark-Urbanismus“ setzt eine Zäsur, die vergangene Masterpläne gehörig alt aussehen läßt. Ballungsräume machen vor Ländergrenzen nicht mehr halt, wie etwa der geplante Brückenschlag zwischen Kopenhagen und Malmö oder die Dreiländerregionen um Aachen oder Basel veranschaulichen. Katalogautor Klaus Kunzmann sieht hierin ein Wuchern, das dem früher nie für möglich gehaltenen Modell Los Angeles näherkommt als der vielbeschworenen europäischen Stadt. Die hilflosen „Blaue Banane“- Boomgrafiken, die in immer neuen Varianten den mitteleuropäischen Kontinent durchkreuzen und dann auch schon mal zu Trauben mutieren, zeigen die allgemeine Planlosigkeit deutlich an. Doch was bleibt zu tun, wenn selbst Wirtschaftsboom oder Bevölkerungswachstum ausbleiben?

Die Netzwerke von Produktion und Infrastruktur, von Information, Macht und Bildern fügen sich nicht mehr so einfach auf dem Zeichenpapier zusammen. Die „global player“ des „footloose capitalism“ kennen keine Verbindlichkeiten, sondern wechseln den Standort wie andere ihre Telefongesellschaft. Maßstab ist die konkurrierende Metropole und nicht mehr die lokale Gegebenheit.

Vergleichbare Utopien finden sich schon zu Beginn des Jahrhunderts: Bereits 1912 entwickelte der größenwahnsinnige Bildhauer Hendrik C. Andersen sein haarklein ausgemaltes „Weltzentrum für Kommunikation“ völlig losgelöst vom Standort. Je nach Interesse sollte sich die an eine aufgeblasene Weltausstellung erinnernde Monumentalachse in Brüssel, Bern, Konstantinopel, Den Haag, New Jersey, Paris, Rom oder an der Riviera niederlassen. Auch Le Corbusiers Planungen, als Blaupausen für den weltweit Spuren hinterlassenden Imperialismus des „International Style“, setzten ein Tabula rasa voraus, das sich an geographischen oder gar sozialen Gegebenheiten wenig scherte. Von hier ist es nicht weit zur „slum clearance“, wie es in der Sprache der Technokraten heißt.

Wo bleibt das Soziale, wenn das von Mike Davis als „black intifada“ gekennzeichnete Aufstandsszenario in L.A. 1992 für europäische Städte nicht mehr undenkbar erscheint? Armutsökonomie im Stil der Favelas, Amsterdamer Hausbesetzungen oder die Freie Stadt Christiania auf einem Kopenhagener Militärgelände bilden allenfalls Fußnoten in einem Planungsdenken, das vom öffentlichen Auftrag geprägt ist, heute jedoch vor allem privatwirtschaftlich geprägt ist. In Zeiten des „Budgetrealismus“ (Kai Lemberg) vernagelt sich die Ausstellung gegenüber sozialen Bewegungen und bleibt auch in der Kritik an Developern unentschieden.

Bis 5. April, Rotterdam. Der zweibändige englische Katalog kostet 165 niederländische Gulden