Gut, wenn's ein bißchen enger ist

In der Gegenrichtung durch Einbahnstraßen zu radeln, darf erlaubt werden, ist es aber in Berlin noch nicht. Statt dessen wurde die Bundesregelung von der hiesigen Straßenverkehrsbehörde noch verschärft. Experten streiten sich um die Definition „geringer Längen“  ■ Von Matthias Fink

Einbahnstraßen in beide Richtungen befahren zu dürfen, haben RadlerInnen schon lange gefordert. Seit September vergangenen Jahres ist es nicht mehr grundsätzlich verboten. So revolutionär ist das nicht, denn die Straßenverkehrsbehörden der einzelnen Kommunen müssen nun entscheiden, ob sie tatsächlich die Fahrräder reinlassen. Solange die entsprechenden Schilder nicht aufgestellt sind, bleibt alles beim alten.

Unter dem blauweißen, länglichen Einbahnstraßenzeichen muß ein Extratäfelchen hängen, das ein Fahrrad und zwei Pfeile in entgegengesetzten Richtungen zeigt. Gleiche Täfelchen müssen auch unter dem quadratischen blauen Zeichen mit weißem Pfeil nach oben hängen, das innerhalb der Einbahnstraßen den richtigen Weg weist. Und die roten runden Sperrschilder mit weißem Balken müssen eine Zusatztafel haben, auf der „Radfahrer frei“ steht.

Wann die Straßenverkehrsbehörde die Schilder anschrauben darf, ist ausführlich geregelt. Als erstes scheiden – per Gesetz – alle Einbahnstraßen aus, in denen nicht Tempo 30 (oder noch weniger) vorgeschrieben ist. Die Verwaltungsvorschriften aus dem Hause von Bundesverkehrsminister Matthias Wissmann (CDU) sehen noch eine ganze Reihe anderer Hürden vor. So muß „nach der flächenhaften Radverkehrsplanung die Benutzung der bestimmten Straßenstrecke innerorts erforderlich“ sein. Die Fahrbahn muß drei Meter breit sein; wenn Linienbusse oder viele Lastwagen dort fahren, sind mehr als 3,50 Meter nötig.

Wichtig ist auch, daß die „Begegnungsstrecke von geringer Länge“ sein soll. Gerade diese Formulierung läßt sich interpretieren. „Wir meinen, daß damit die Entfernung zwischen zwei Engpässen gemeint ist“, argumentiert Roland Jannermann, der beim Berliner Allgemeinen Deutschen Fahrradclub (ADFC) für Verkehrsplanung zuständig ist. Die Senatsverkehrsverwaltung habe leider in den Verwaltungsvorschriften, die sie zusätzlich zu den Wissmannschen Regeln erlassen hat, die Gesamtlänge der Straßen, die geöffnet werden sollen, auf 150 Meter begrenzen wollen. Karl-Heinz Winter von der Verkehrsverwaltung zeigt sich gegenüber der taz doch großzügiger. „Ich sage, zwischen zwei Einmündungen sollen höchtens 150 Meter liegen.“ Und: „Sicherlich wird es Abweichungen geben, wenn die Straße besonders gut überschaubar ist.“

Von der zulässigen Länge hängt viel ab, erklärt Wolfgang Friese, Leiter der Unteren Straßenverkehrsbehörde, die zum Polizeipräsidium gehört und der Senatsverwaltung untergeordnet ist. In vielen Berliner Stadtteilen seien die Abschnitte zwischen Einmündungen länger als 150 Meter. Immerhin seien 200 Meter breite Blöcke ein Gestaltungselement des bedeutenden Berliner Stadtplaners Hobrecht gewesen, argumentiert der heimatkundlich bewanderte Behördenchef.

Der ADFC kritisiert, daß die Berliner Verkehrsverwaltung die bundesweite Regelung verschärft hat. Am liebsten sähe man es beim ADFC, wenn die Freigabe von Einbahnstraßen die Regel, das Verbot in gefährlichen Straßen die Ausnahme wäre. Damit würde nicht nur der Schilderwald kleiner gehalten, sondern vielerorts auch das Risiko: „Wer sich sieht, fährt sich nicht um“, meint ADFC-Pressesprecher Benno Koch. Sein Kollege Roland Jannermann sieht auch bei Einbahnstraßen, in denen Autos links parken, eher Vorteile. Hier habe man nicht nur Augenkontakt, „der Radfahrer sieht auch, daß eine Tür aufgeht“.

Letztlich sei es gerade gut, wenn es ein bißchen enger sei und Autos und Fahrräder nicht schnell aneinander vorbeikämen. „Das Sicherheitsprinzip ist die geringe Geschwindigkeit.“ Karl-Heinz Winter von der Oberen Straßenverkehrsbehörde argumentiert hingegen beim Streit um die Mindestbreite der Einbahnstraßen, man müsse „den durchschnittlichen, nicht den professionellen Radfahrer zugrunde legen“.

In ein bis zwei Monaten, meint er, könne die Überprüfung im wesentlichen abgeschlossen sein, was aber von der Arbeit der unteren Behörde abhänge. Deren Chef Friese verweist auf mühselige Arbeit, alle 856 Berliner Einbahnstraßen zu katalogisieren.

Wegen der Streitigkeiten gibt es auch viele Zweifelsfälle, über die genaue Verkehrsbelastung etwa oder über Engpässe. „Wir müssen noch mal raus und nachmessen.“ Manchmal müßten vor einer Freigabe auch Ampeln ergänzt und die Phasen umgeschaltet werden. Behörde und Schutzpolizei seien zudem sehr in Anspruch genommen mit der Erfassung der Radwege. Am 1. Oktober soll (siehe nebenstehenden Artikel) die Benutzungspflicht für minderwertige Radwege aufgehoben werden. Diese Vorarbeit sei vordringlich und umfangreicher.

Wann die erste Einbahnstraße entgegen der Autofahrtrichtung für Zweiräder geöffnet wird – gute Karten haben etwa die Rüdesheimer und die Geisenheimer Straße in Schmargendorf –, ist noch nicht abzusehen.

Für das Ende gibt es schon einen Termin: Am 31. Dezember 2000 soll die Erlaubnis in der Straßenverkehrsordnung außer Kraft treten – wenn der Bund das Gesetz nicht noch ändert.

In manchen freigegebenen Einbahnstraßen könnte aber auch früher Schluß sein. Die Schilder müssen fallen, sobald es mehr als einen Unfall mit Personen- oder schwerem Sachschaden gibt – wenn sie „im Zusammenhang“ mit der neuen Regelung stehen. Da vieles mit vielem zusammenhängt, kann auch hier der Wortlaut strapaziert werden. Das sei „ein weites Feld“, meint Friese. „Ein Autofahrer kann ja auch Schutzbehauptungen aufstellen.“

Verschiedene Meinungen gibt es auch zu der Frage, wie weit die doch recht komplizierten Bedingungen, die vor einer Freigabe erfüllt sein müssen, beim Radfahrvolk bekannt sind. Benno Koch vom ADFC meint, viele führen jetzt schon entgegen der Einbahnrichtung: „Das weiß doch keiner, daß es nicht allgemein erlaubt ist.“ Friese weiß zwar auch, daß viele RadlerInnen die Vorschriften der Behörde mißachteten, sieht dies jedoch bei den Einbahnstraßen nicht so: „Dieses Dornröschen muß die Behörde wecken.“