Buchmessern
: Schrifttypkontrolle

■ Europa, vom rumänischen Rand gesehen: Die Eröffnung der Buchmesse in Leipzig

Das menschliche Bedürfnis, allen Dingen Anfang und Ende zu verleihen wie dem Leben selbst, ist unerschöpflich. Bei Buchmessen sprechen Präsidenten obligatorisch von der Bedeutung der Kultur, gefolgt von würdevoller Musik – Leipzig macht keine Ausnahme: Richard Strauss, feierlicher Einzug für Orgel, vier Posaunen und Pauke. Es sei eröffnet.

Wer hat bloß die Grußworte erfunden? „Glückauf“, sagte Leipzigs Bürgermeister Hinrich Lehmann-Grube im Neuen Gewandhaus und versprach sich gleich zum Mitschreiben, als er „Kulturausschuß“ statt „Kulturaustausch“ sagte. Da weiß man, aus welcher Welt er kommt. Bei ihm und auch in der Ansprache des Börsenvereinsvorstehers Gerhard Kurtze ging es vor allem um den Umzug der Buchmesse aus der Innenstadt in die neuen Messehallen – notwendig, weil „dort die Zukunft liegt“ (Kurtze).

Interessanter waren die Gäste aus Rumänien, dem Land, das thematisch im Mittelpunkt steht. Staatspräsident Emil Constantinescu lobte mit fast schon rührender Emphase die Bücher als Instrumente gegen das Vergessen und gegen den Totalitarismus. Die Demokratie sei „dazu verdammt, gebildet zu sein“, sie können nicht ohne Bücher existieren. Ein Buch, definierte der gelernte Geologe Constantinescu, „ist jede Inschriftform, die sich an das individuelle Gewissen wendet“. So formuliert man in Westeuropa nicht mehr. Da muß schon einer aus einem bürgerlichen Entwicklungsland kommen, um nicht nur an Unterhaltung und Verkäuflichkeit zu denken.

Deutlicher und auch differenzierter wurde die frühbürgerliche Tugendhaftigkeit in der Rede des rumänischen Außenministers Andrei Plesu, eines gelernten Kunsthistorikers, Philosophen, Essayisten, der von 1989 bis 1991 bereits als Kulturminister tätig war. Dafür, daß es im Rumänien Ceaușescus keine Samisdatliteratur gab, bot er eine einleuchtende Erklärung: Jede Schreibmaschine mußte gemeldet werden. Einmal jährlich mußte man mit seiner Maschine und einem getippten Blatt, das der Identifizierung der Schrifttype diente, zur Polizei, um sich eine Genehmigung ausstellen zu lassen. Der zu tippende Text war – und das fand man damals nicht witzig – eine Rede Ceaușescus über die Annehmlichkeiten des Lebens im Kommunismus.

Gespenstische, absurde Vergangenheit: Das einstmals subversive „Kommunistische Manifest“, das mit dem Satz beginnt „Ein Gespenst geht um in Europa“, wurde zu ihrem verbreitetsten Text. „Dank des durchschlagenden Erfolges dieses Textes“, so Plesu, „wurde in der kommunistischen Welt alles schattenhaft, gespenstisch. Alles, außer dem Gespenst selbst. Der Materialismus führte zum Schwinden der Materie, die Ideologie führte zur Unterdrückung der Ideen, der Kult der revolutionären Freiheit führte zur Aufhebung der Freiheiten. Eine Handvoll Bücher von Marx, Engels, Lenin und Stalin stellte am Ende das ganze Universum des Buches in Frage.“

Kein Wunder also, daß auch Plesu den „Bürgergeist“ der Französischen Revolution beschwor und jene „guten“ Bücher, die den Weg zu anderen Büchern öffnen. Das Universum der Bibliotheken proklamierte er als seine – europäische – Heimat. Hier bestehe die Einheit Europas immer schon, so sehr, daß die Intellektuellen Rumäniens nicht verstünden, warum sie sich erst zu „integrieren“ hätten, befinde Europa sich doch schon immer „in ihren Bibliotheken, in ihrem Blut, in ihrem Geist“.

Kurt Biedenkopf, der an diesem Abend nicht als Ministerpräsident, sondern als „Autor“ angekündigt war, gab darauf die prosaische Antwort: weil dieses Europa sich ausschließlich als Wirtschaftsraum definiert und nicht als Raum einer gemeinsamen Kultur. „Diese Fehlentwicklung dürfen wir nicht zulassen“, sagte Biedenkopf. Aber wer ist wir? Die Messegäste wenigstens können nun gestärkt im Dienste eines höheren Auftrags ihrem Gewerbe nachgehen. Jörg Magenau