■ Demokratie unter Druck (5): Rassismus und antidemokratisches Denken in Ostdeutschland sind nicht nur ein Erbe aus DDR-Zeiten
: Wo bleiben die Verfassungspatrioten?

Der in bester Absicht proklamierte Satz von Willy Brandt, wonach zusammenwachse, was zusammengehöre, löst heute im Westen allenfalls blasiertes Lächeln aus, im Osten riskiert man dafür mindestens verbale Aggressionen. Zusammengewachsen ist gar nichts – zumindest diese Hoffnung mancher national Gesinnter, diese Befürchtung vieler Linker hat sich nicht erfüllt.

Diese Gesellschaft ist weder ökonomisch noch kulturell eins. Links der Elbe leben 66 Millionen Westdeutsche, denen ihre Abstammung Umfragen zufolge zunehmend egal ist und die im Zweifelsfall mehr Abneigung gegen die Ostdeutschen als gegen die Franzosen verspüren. Rechts der Elbe leben 15 Millionen Ostdeutsche, von denen immer mehr immer lauter auf ihre Abstammung pochen, während eine kleine, aber keineswegs geächtete Minderheit ihre Abneigung gegen ihre Nachbarn nichtdeutscher Abstammung mit Baseballschläger und Springerstiefeln demonstriert.

Was den Westdeutschen nach 1945 mitsamt Marshall-Plan von den Amerikanern eingefüttert wurde – Demokratie und Bürgerrechte –, reduziert sich in den neuen Bundesländern auf eine Amerikanisierung der Stadtplanung und des Arbeitsmarktes: Neue, autogerechte Shopping Malls und uniforme Wohnparks, schrumpfende Mitgliederzahlen in den Gewerkschaften und flexibelste Arbeitsplätze. Das politische Denken hingegen wird zunehmend völkisch.

Dafür gibt es DDR-spezifische Gründe: die ethnische Homogenität der Genossengemeinschaft etwa, die ihren Mitgliedern alle Fremdheitserfahrung ersparte, der hohle, deklamatorische Antifaschismus und jene Kombination aus politischer Repression und sozialer Sicherheit, die alles individuelle Regen erstickte.

Aber das allein erklärt nie und nimmer die antidemokratische rechte Alltagskultur in den neuen Bundesländern. Die ist kein pures DDR-Gewächs, sondern eine Ost- West-Züchtung, die einen gehörigen Wachstumsschub mit den Vereinigungsverhandlungen 1990 erhielt, als die neuen Bundesländer – dafür völlig unvorbereitet – in den Verteilerschlüssel für die Aufnahme von Asylsuchenden aufgenommen wurden. Das geschah nicht etwa mit dem Hinweis auf die nunmehr gesamtdeutsche Verantwortung für Artikel 16 des Grundgesetzes und mit entsprechenden Hilfestellungen für die Kommunen. Es geschah mit dem unausgesprochenen Hinweis: Wir geben euch die Westmark, dafür nehmt ihr uns gefälligst Müll ab. Im Westen tobte unterdessen die Asyldebatte, die weniger eine Debatte war als eine mediale Abfolge von Überflutungsmetaphern mit völkischen Untertiteln.

Zur Erinnerung an die Parallelität der Ereignisse: Im September 1991 führten BürgerInnen vor laufender Fernsehkamera im sächsischen Hoyerswerda das erste Pogrom seit 1945 durch; im September 1991 gab der damalige CDU- Generalsekretär Volker Rühe an alle Ortsverbände die Wahlkampforder aus, die SPD bei jeder Gelegenheit mit dem Thema „Asylmißbrauch“ in die Ecke zu treiben. Wenn sich eine demokratische Gesellschaft am Umgang mit ihren Minderheiten messen lassen muß, dann war dies ein denkbar schlechter Start für diese neue Bundesrepublik und ihr Grundgesetz.

Was der Westen dem Osten in diesen ersten Jahren der Vereinigung vorlebte, war nicht etwa Respekt für einen demokratischen Verfassungsstaat, für Menschen- und Bürgerrechte, sondern, wie es der Ostberliner Rechtsextremismus-Experte Bernd Wagner formuliert, die Idee eines Staates, „der die sozialen Interessen der Deutschen gegen alle anderen“ sichert. Zur Erinnerung sei noch angefügt: Was immer die Ostdeutschen an demokratischer Erfahrung mitbrachten – und das war eine Bürgerbewegung plus einer nie für möglich gehaltenen friedlichen Revolution gegen das Regime –, wurde mit der Absage an eine Verfassungsreform vom Tisch gewischt.

So wird im Osten 1999 wenig Partystimmung zum Fünfzigsten des Grundgesetzes aufkommen, selbiges ist derzeit keine Säule zur Legitimation dieses Staates. Die zweite Säule, der Zugang zur Erwerbsarbeit, bröselt derweil weiter vor sich hin. Trotzdem ist es nicht so, daß diese antidemokratische rechte Kultur im Osten widerspruchslos hingenommen würde. Es gibt – und das ist der zentrale Unterschied zu den alten Bundesländern – dort keine republikanische Mehrheit, weshalb rechte Gewalttäter im Osten relativ offen und im sicheren Gefühl des Einverständnisses ihrer deutschen MitbürgerInnen agieren können. Aber es gibt auch, fragile, Netzwerke, die erste zivilgesellschaftliche Infrastrukturen aufbauen. Es entwickelt sich, wenn auch langsam, ein politischer Leidensdruck auf kommunaler Ebene, der sich in runde Tische oder „Facharbeitskreise gegen Gewalt“ übersetzt. Auch da wird vieles schöngeredet oder für „normal“ erklärt, was niemals normal sein darf.

Bloß ist auch das keine ostdeutsche Spezialität: Helmut Kohl sah sich nicht einmal nach den Brandanschlägen von Mölln und Solingen in der Lage, über das Betroffenheitsgeschwätz und das Bekenntnis zur „Fremdenfreundlichkeit“ hinaus eine deutliche symbolische Geste der Empörung und Anteilnahme zu leisten. Nicht weil er xenophob ist, sondern weil er darauf beharren wollte, daß sich das vereinigte Deutschland auf dem Weg der Normalisierung befinde.

Als Minimum muß der Politik abverlangt werden, daß sie diesen Zuständen jegliche Normalität abspricht – und sei es dadurch, daß sich ihre SpitzenvertreterInnen dem Problem endlich hautnah aussetzen: Wann geht Gerhard Schröder in die Brandenburger Realschule und hört sich die Ansichten der SchülerInnen zur „Ausländerproblematik“ an? Warum gehen die Bündnisgrünen, denen die FDP das gesamte Betätigungsfeld im Bereich Grundrechte und Demokratie überlassen hat, nicht in die Offensive und unterstützen die AktivistInnen in eben jenen Netzwerken? Glauben sie wirklich, sie kriegen mit der Parole „Teure Flugreisen sind toll“ mehr Stimmen als mit einer gesamtdeutschen Kampagne für Zivilcourage? Last not least: Wo bleiben all die VerfechterInnen des Verfassungspatriotismus? Und wo sind jene KritikerInnen, denen diese Form des Nationalgefühls immer zuwenig Emotionen produzierte, weil sie „zu erlebnisarm“ sei? Mit der Verfassung unterm Arm kann man derzeit in Magdeburg oder Eberswalde sehr wohl was erleben. Man braucht sogar eine Menge Herz. Andrea Böhm