■ Auf die Gegenseite ist kein Verlaß mehr: Die Anti-AKW-Bewegung mußte durch den Schachzug des NRW-Innenministeriums, den Castor-Transport vorzuverlegen, einige organisatorische Saltos schlagen
: "Castor kommt früher. Wir auch"

Auf die Gegenseite ist kein Verlaß mehr: Die Anti-AKW-Bewegung mußte durch den Schachzug des NRW-Innenministeriums, den Castor-Transport vorzuverlegen, einige organisatorische Saltos schlagen

„Castor kommt früher. Wir auch“

Punkt neun Uhr morgens dürfen sie endlich zulangen. Eine grüne Hundertschaft aus Berlin ist sich nicht zu schade, vor laufenden Kameras den Kettenhund zu spielen. Draufstürzen, festkrallen, rauszerren, wegschleppen: 400 singende SchülerInnen aus Ahaus, dazu ein paar Demo-Veteranen aus Gorleben und ein Dutzend grölender Niederländer müssen runter von den Schienen.

Mitten im schwerbewachten Ahaus, wo am Freitag abend 5.000 Castor-Gegner zusammengetrommelt wurden, haben die allgegenwärtigen Ordnungskräfte es zugelassen, daß nun die Gleise zum atomaren Zwischenlager blockiert sind. Und weil das die Verantwortlichen nervt und weil die Nacht in den Mannschaftsbussen verdammt kalt war, übertreiben es die Berliner Einsatzkräfte ein wenig beim Abräumen. Einer Demonstrantin wird ein Gandhi-Plakat um die Ohren gehauen, dann stürmt ein Trupp nach vorn, zerrt an Jacken und Haaren – und bleibt plötzlich stecken. Um Viertel nach neun werden die Berliner zurückgepfiffen. Mit den Herren ist hier kein Staat zu machen. Denn in Ahaus wird ums Image gekämpft.

Kooperieren, deeskalieren, runterkochen hieß das Programm, mit dem der grüne Polizeipräsident Hubert Wimber in Ahaus zum Castor-Transport angetreten war. Und weil der Mann keine blutenden Demonstranten im Fernsehen sehen will, hat er die Atomkraftgegner ein bißchen ausgetrickst. Fünf Tage vor dem angekündigten Termin ist die strahlende Fracht ins Münsterland unterwegs. Und seit das bekannt wurde, hat die Bürgerinitiative „Kein Atommüll nach Ahaus“ ein paar organisatorische Saltos geschlagen. Tag und Nacht laufen im Pressebüro die Drähte heiß, eine Handvoll SchülerInnen klingelt die Kampfgenossen anderer Bundesländer aus den Betten. Auch ein neuer Schlachtruf ist schon im Umlauf: „Der Castor kommt früher. Wir auch.“

Bis er dann wirklich kommt, vergehen allerdings noch einige ziemlich frostige Stunden. Draußen „auf der Strecke“ haben Polizei und BGS ganze Arbeit geleistet. Ein doppelter Zaun mit Nato- Draht wurde entlang der letzten Kilometer Schiene zum Zwischenlager errichtet. Zwei genehmigte Camps wurden bereits am Donnerstag geräumt, X4 ist zum einzigen Basislager der Demonstranten geworden. Hier schießen seit der Nacht Iglu-Zelte wie silberne Pilze aus dem Boden, an den Lagerfeuern organisieren sich die „Bezugsgruppen“. Die Jugend aus dem Münsterland und dem Ruhrpott ist gekommen, aber auch entschlossene StudentInnen aus Greifswald, „weil bei uns genau das gleiche passiert“. In der Campküche kochen die Niederländer für den Kampf der Nachbarn. „Damit die nicht aggressiv werden hier“, erklärt ein Holländer mit wissendem Blick. Er kennt seine Pappenheimer schon aus Gorleben.

Von der perfekten Organisation der Wendländer können die Ahauser indes nur träumen. Daß hier alles irgendwie klappt, aber nichts so läuft wie geplant, das hat vor allem den Chef der Bürgerinitiative aufgebracht. „Ich weiß nicht, ob ich beim nächsten Transport noch einmal bereit bin, mit der Polizei zu verhandeln“, sagt Burkhard Helling, der seit Monaten gewaltfreien Widerstand predigt. Er sei „total enttäuscht“ von der Einsatzleitung und fühle sich „über den Tisch gezogen“. Daß ein Wort noch etwas gilt, das hat man im Münsterland erwartet.

Tausende von Demonstranten sind nicht rechtzeitig angekommen, weil bei diesem Einsatz mit gezinkten Karten gespielt wurde. Auch der Münsteraner Polizeipräsident Hubert Wimber sei eben nur eine Marionette des Düsseldorfer Innenministeriums, stellt Helling achselzuckend fest. In 24 Stunden ist in der besenreinen Backsteinstadt mit den vielen Kirchtürmen eine kleine heile Welt zusammengebrochen. Nicht, daß man nicht mit Straßensperren gerechnet hätte und mit dem ganzen Sicherheitsbrimborium. Im Grunde war keiner sicher, ob am Tag X überhaupt noch Blockierer die Gleise besetzen könnten.

Aber daß es gegen 13 Uhr, lange bevor der Castor die Landesgrenzen passiert, schon eine erste blutige Nase bei einer Straßenblockade in der Innenstadt gibt, das regt sogar brave Bürgersleute auf. Anreisenden Demonstranten werde von Polizisten die Luft aus den Autoreifen gelassen, geht das Gerücht. „Ich schäme mich, eine deutsche Beamtin zu sein“, empört sich eine Lehrerin, die sich in der Protestbewegung „schon ziemlich weit aus dem Fenster gelehnt“ hat. Auf die Schienen setzen will sie sich allerdings nicht. Weil sonst ein Diziplinarverfahren droht.

Christoph dagegen traut sich heute, zum allerersten Mal. Der baumstarke Heiztechniker aus Ahaus hat sich ein gelbes Leibchen mit einem schwarzen X umgebunden, neben ihm auf den Schienen kauert Dietmar, ein Restaurateur. Eine „freie Gruppe“ seien die beiden, das heißt im Klartext: Ihre Kumpels haben sich hinter die behelmten Reihen verkrümelt. „Beklemmend“ finden sie es, so mittendrin im Polizeikessel. Schild an Schild rücken die Einsatzkräfte jetzt vor, der erste Wasserwerfer biegt um die Ecke. „Wie ein unheimliches Spielzeugauto“, rutscht es Dietmar raus, dem jetzt „schon irgendwie mulmig“ wird. Christoph verlegt sich lieber aufs Schimpfen, „total verarscht“ kommt er sich vor. Die nächste Woche hat er sich extra freigenommen, jetzt mußte er ganz plötzlich krank werden. Der Chef immerhin, der sagt nichts dazu. Daß es „kein Thema“ mehr ist, wenn einer am Tag X fehlt, das ist in Ahaus schon ein großer Schritt.

Vor wenigen Jahren noch hat sich hier keine Hand gegen das Atomklo hinter der Stadt erhoben. Zu zwei Schwimmbädern und einer ganzen Reihe hübscher Industrieanlagen haben die Betreiber des Zwischenlagers den Ahausern verholfen. Und auch für die Zukunft sind millionenschwere Entwicklungshilfen versprochen, damit es im Münsterland ruhig bleibt. „Für meine Kollegen“, weiß Mark, „waren wir früher alle nur Chaoten, die ihnen im Garten die Radieschen zertrampeln.“ Immerhin, schiebt der zukünftige Industriekaufmann nach, „so langsam denken die hier um“.

Auf den Schienen zeitigt der gewaltlose Widerstand gegen Mittag noch Erfolge. Sechs Stunden haben die Blockierer schon durchgehalten, keiner hat Radau gemacht. Eine mobile Toilette wird inzwischen schmerzlich vermißt. Da naht Abhilfe in grüner Uniform. Bremer Beamte sind mit Abräumen dran, wer kassiert wird, kriegt Handschellen und landet in der Gefangenensammelstelle. Auch das ein Verstoß gegen die Abmachungen, heißt es bei der BI. Was die Ahauser mittags noch nicht wissen: Später langen die Polizisten mit schmerzhaften Griffen ins Gesicht richtig zu.

Vorläufig aber kommen die Blockierer noch einmal in Fahrt: „Helm ab, Helm ab“, grölt es den Beamten entgegen. Die haben ein Einsehen. Ein paar Mannen werden oben ohne vorgeschickt, wir leben ja in einer Fernsehgesellschaft. Applaus für die Bullen, ein Scherzchen für die Demonstranten... bis der Castor kommt. Constanze v. Bullion, Ahaus