Eigentor im Heimspiel

Wie auf Zehenspitzen geschrieben: Judith Butler und die Bewegung gegen „hate speech“. Vage zeichnet sich ein Gesellschaftsbild ab, das nur aus Gruppen besteht  ■ Von Mariam Lau

Halb amüsiert, halb befremdet hat man hierzulande wahrgenommen, daß sich vor einiger Zeit amerikanische Akademiker zusammenfanden, um eine Art Transsubstantiationslehre zu propagieren. Rassistische oder sexistische Bemerkungen, „hate speech“, so ihr Credo, seien nicht bloß Worte, sondern Taten, und zwar verletzende Taten. Deshalb seien sie auch nicht durch den Ersten Zusatzartikel der amerikanischen Verfassung geschützt, der die freie Meinungsäußerung garantiere. Der Staat, oder zumindest die Universitätsleitung, habe die Betroffenen vor solchen Angriffen zu bewahren. Bekanntermaßen wurden daraufhin von einigen der angesehensten Universitäten sogenannte „speech codes“ beschlossen.

Es waren die Reagan-Jahre. Die Universitäten wurden zu Mini-Republiken, in denen die Linken, ohne erst die moral majority mühsam für sich gewinnen zu müssen, eigene Vorstellungen Gesetz werden lassen konnten. Kein einziger der „speech codes“ überlebte allerdings die Prüfung durch Gerichte. Im Gegenteil. Der Oberste Gerichtshof entschied in einem spektakulären Urteil von 1992, daß die Aufstellung eines brennenden Kreuzes – die bekannteste Drohgebärde des Ku-Klux-Clan – im Garten einer schwarzen Familie als Meinungsäußerung zu werten und also vom Ersten Zusatzartikel geschützt sei.

Die Bewegung gegen „hate speech“ ließ sich davon nicht beeindrucken. Sie kulminierte 1993 in zwei inzwischen notorischen Publikationen von Rechtsprofessoren, Catharine Mac Kinnons „Only Words“ (dt. Als „Nur Worte“, Frankfurt 1994) und „Words that Wound“ von Mari Matsuda und anderen, in denen unmißverständlich klargemacht wurde, daß es mit der alten Bürgerrechtsallianz zwischen der Forderung nach Gleichheit und der nach Freiheit vorbei war.

Sexistische Bemerkungen, so Mac Kinnon, erzeugten ein feindseliges Arbeitsklima, das die betroffene Frau zum Verstummen und Schlimmerem brächte, wodurch sie auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt sei. Der 14. Zusatzartikel der Verfassung, der den Staat zwingt, seine Bürger vor Ungleichbehandlung zu schützen, habe in diesem Fall Vorrang vor der freien Meinungsäußerung.

Zum Schrecken der liberalen Bürgerrechtsorganisationen machten sich die Gerichte immer häufiger diese Argumentation zu eigen – allerdings nicht in der beabsichtigten Weise. Das erste Opfer der von Mac Kinnon beeinflußten Rechtsprechung war ein schwuler Buchladen in Toronto, der ein lesbisches Magazin verkaufte, dessen Inhalt als „hate speech“ eingeschätzt wurde. Homosexuellen in der Armee soll es dieser Tage untersagt werden, sich offen zu bekennen, denn dieses Bekenntnis sei nicht bloß ein Wort, sondern ein „Verhalten“, mit dem andere „angesteckt“ werden könnten.

Der einzige Universitätsangehörige, der je nach einem „speech code“ relegiert wurde, war ein schwarzer Student der Sozialpädagogik, der gesagt hatte, er halte Homosexualität für eine Krankheit, und er habe sich bereits ein famoses Projekt ausgedacht, wie diesen Leuten zu helfen wäre. Weil sich die Sache solchermaßen zu einem Eigentor auszuwachsen droht, sah sich die kalifornische Rhetorikprofessorin Judith Butler auf den Plan gerufen. Butler verdankt ihren auch in Deutschland beachtlichen Publikumszulauf wohl der Tatsache, daß sie ihre sexuelle Orientierung als Lesbe in Philosophie oder Anthropologie und überhaupt eine Menschheitsdämmerung zu übersetzen versucht. Homosexualität ist für sie eine Form der sprachlich-körperlichen Subversion, die alle Systeme zum Tanzen zu bringen vermag. In ihrem Buch „Haß spricht. Zur Politik des Performativen“ sucht sie – gegen Mac Kinnon – nach Wegen, sich der Haßrede zu erwehren, ohne die Gerichte zu bemühen. Man ist durchaus gewillt, ihr darin freudig zu folgen, aber so leicht möchte sie es ihren Lesern nicht machen.

Die Gegenwehr kann nämlich nicht von einem „Subjekt“ ausgehen, diesem Phantasma aus metaphysischen Zeiten. Man kann auch nicht, wie Pierre Bourdieu das in seiner Diskussion der Sprechakt- Theorie tut, die performative Kraft einer Äußerung auf die gesellschaftliche Macht des Sprechers zurückführen. Damit ließe man, so entgegnet Butler mit Derrida, die Möglichkeit einer „Wiedereinschreibung“ von den Rändern her außer acht, einer Resignifikation der Konvention, die stärker und unberechenbarer ist als jeder politische Einfluß.

„Welche performative Macht“, so fragt Butler rhetorisch, „liegt darin, wenn ein Anspruch auf Begriffe wie ,Gerechtigkeit‘ oder ,Demokratie‘ erhoben wird – Begriffe, die gebildet wurden, um diejenigen auszuschließen, die jetzt einen Anspruch auf sie erheben? Welche performative Macht liegt in der Forderung nach Freiheit oder nach dem Ende des Rassismus gerade dann, wenn demjenigen oder denjenigen ,wir‘, die diese Forderung stellen, die politischen Rechte dazu radikal abgenommen worden sind? [...] Welche performative Macht liegt darin, wenn man sich gerade die Begriffe aneignet, von denen man verletzt wurde, um ihnen ihre degradierende Bedeutung zu nehmen oder aus dieser degradierenden Bedeutung eine Affirmation abzuleiten – wenn man sich im Zeichen des Schwulseins zusammenschließt oder die Kategorien ,schwarz‘ oder ,Frau‘ neu bewertet.“

Selbst wenn man die Zweifel darüber, ob „Demokratie“ wirklich erfunden wurde, um Homosexuelle auszugrenzen, oder ob vorauseilende Selbstbeleidigungen wirklich helfen, einmal hintanstellt – der Eindruck bleibt, es mit allerhand aufgeschmockten Banalitäten zu tun zu haben. Man fordert Gerechtigkeit, wo man sich ungerecht behandelt fühlt? Man schließt sich zusammen? Man besetzt Begriffe neu? Am Ende des dünnen Büchleins zerbröseln einem die Theoriehäppchen, die Butler vor sich aufgehamstert hat, zwischen den Fingern. Hegels „Anrufung“, Foucaults omnipräsente Macht, Austins Sprechakt – alles mündet in das Graffito „Wir haben keine Chance, aber wir nutzen sie.“

Geschrieben ist „Haß spricht“ gewissermaßen auf Zehenspitzen, spitzfindig wie mittelalterliche Scholastik, evasiv bis zur Unkenntlichkeit, ein akademischer Jargon der Uneigentlichkeit, der im seltsamen Gegensatz zur Privatheit des Anliegens steht. Vage zeichnet sich hinter den Nebelschwaden ein Gesellschaftsbild ab, das nicht mehr aus Individuen, sondern nur noch aus Gruppen besteht. Eine stratifizierte, freudlos ineinander verkeilte Gesellschaft, in der diejenigen, die historisch einen Opferstatus für sich geltend machen können, denen gegenüberstehen, die das nicht können, weil sie weiß und heterosexuell, männlich und nicht „körperlich herausgefordert“ sind.

Dieses „kommunitaristische“ Modell eint Judith Butler wieder mit Catharine Mac Kinnon, nur daß diese sich schon präzisere Gedanken darüber gemacht hat, wer künftig entscheiden soll, ob eine Äußerung verletzend war oder nicht: die Beleidigten nämlich. Und da sie bereits von der Geschichte ins Recht gesetzt worden ist, wie in einen Erbhof gewissermaßen, braucht es eigentlich auch keine lange Verhandlung mehr...

Henry Louis Gates, Harvard- Professor für Black Studies, erinnerte angesichts dieser Vision erschrocken daran, daß die Bürgerrechtsbewegung es einmal als einen Sieg angesehen hat, Rechtsprechung ohne Ansehen der Hautfarbe, des Geschlechts und so weiter durchgesetzt zu haben. All dies war Privatsache, und damit eben nicht politisch. Keine Gleichheit ohne Freiheit – und umgekehrt. Deshalb hat diese Bürgerrechtsbewegung sich auch seit der Erfindung des Begriffs „hate speech“ – der seit dem ersten Weltkrieg und den großen Einwanderungswellen der Jahrhundertwende in Umlauf ist – mehrmals für Nazis und antisemitische Rede eingesetzt. Verteidigt hatte man eben jenes bürgerliche Subjekt, das aus den Texten von Judith Butler und ihrem Gewährsmann Jacques Derrida immer so mühsam exorziert wird.

Judith Butler: „Haß spricht. Zur Politik des Performativen.“ Aus dem Englischen von Kathrina Menke und Markus Krist. Berlin Verlag, Berlin 1998, 254 Seiten, 39,80 DM

Die sehr empfehlenswerte Aufsatzsammlung von Henry Louis Gates zu diesem Thema ist bislang nur auf Englisch erschienen: „Speaking of Race, Speaking of Sex.“ New York University Press, 1994