„Sonst muß ich hungern“

■ Ein Selbstversuch: Wie ergeht es Hungrigen bei der Bremer Tafel

Martin S. hat Hunger. Er ist arbeitslos. Er bekommt 1.000 Mark Arbeitslosenhilfe im Monat. 550 Mark Miete zahlt er für sein Ein-Zimmer-Apartment in der Neustadt. Die restlichen 450 Mark sind Mitte des Monats schon lange ausgegeben, für zwei neue Brillengläser, für Lebensmittel und für eine Geldstrafe wegen Schwarzfahrens. Heute fährt Martin S. wieder schwarz. Er ist blank und will zur Bremer Tafel.

Nach dem amerikanischen Vorbild der „Foodbank“bietet der Verein seit April 1995 kostenlos Lebensmittel für Bedürftige an. Supermärkte, Großmarkthändler und Bäckereien geben Lebensmittel, die sie nicht verkauft haben, an die Bremer Tafel ab. Der Verein, der mittlerweile 180 Mitglieder zählt, finanziert sich über Spenden und Mitgliedsbeiträgen. 60 ehrenamtliche Helfer arbeiten bei der Bremer Tafel. Als Lohn für ihre Arbeit versprach der erste Vorsitzende Oskar Splettstößer ihnen bei der Gründung „ein gutes Gewissen“.

Martin S. ist spät dran. Er hat keine Nummer. Ab zwölf Uhr verteilen die ehrenamtlichen Helfer kleine gelbe Zettel mit Nummern, damit die Lebensmittel der Reihe nach verteilt werden. Als Martin S. auf dem Hof hinter dem TÜV in Hemelingen ankommt, steht vor der Tür der Bremer Tafel eine lange Schlange. „Scheiße“zischt Martin S. und stellt sich hinten an. Sein Vordermann, ein Mann mit kahlrasiertem Schädel dreht sich um. „48 Nummern sind verteilt worden“, sagt er. Seine Unterlippe bebt. Die dünne Sweat-Shirt-Jacke schützt ihn nur notdürftig vor der Kälte. „Du kannst ruhig warten, es geht bestimmt schnell.“„Mir bleibt gar nichts übrig“, erwidert Martin S.

An der Tür sorgt ein Mann im gelben Pullover für Ordnung. „Ist das denn so schwer“, schnauzt er die Hungrigen an. „Der erste muß hier stehen“, sagt er und zeigt auf eine Stelle neben der Tür. „Muß ich hier erst mit dem Knüppel kommen?“Die Männer und Frauen, die den Ausgang nicht versperrt haben, weichen trotzdem zurück. Keiner sagt ein Wort. Ein Mann kommt aus dem Laden. „Nummer eins“, ruft er. Ein alter Mann mit Krückstock humpelt in den Laden. Kurz darauf kommt er mit einer vollen Plastiktüte heraus. Stolz zieht er eine Keksdose aus der Tüte und zeigt sie einer älteren Frau. Die Frau nickt. „Du mußt mehr essen“, sagt sie.

Die Arme wie ein Schutzwall vor der Brust verschränkt steht Martin S. in der Schlange und starrt auf die Tür. Sein Gesichtsausdruck ist wie versteinert und läßt den 26jährigen um Jahre älter aussehen. Nach und nach kommen die Kunden mit gefüllten Plastiktüten aus dem Laden. Die bange Sorge, daß er noch was abbekommt, steht Martim S. im Gesicht geschrieben. „Wenn ich nichts kriege, muß ich hungern“, sagt er. Vier Jahre war er „auf Droge“. Seit einem Jahr ist er clean und sucht einen Job, bislang ohne Erfolg. „Das Geld reicht nicht hinten und vorne. Wenn es die Bremer Tafel nicht gebe, wäre ich aufgeschmissen.“

Nummer 15 wird aufgerufen. „Macht mal zu“, drängt ein ehrenamtlicher Mitarbeiter der Bremer Tafel. „Ich will Feierabend haben. Ich habe bis fünf Uhr heute Morgen gearbeitet. Ich habe noch eine Kneipe. Letzte Nacht habe ich innerhalb von zwei Stunden 1.000 Mark eingenommen“, sagt er und lacht. „So muß es sein“, nickt Martin S. und starrt wieder auf den Eingang. „1.000 Mark in zwei Stunden“, wiederholt er leise. Eine Frau lehnt in der Tür. „Weg hier“, fährt sie der Mann mit dem gelben Pullover an. „Ist das denn so schwer zu verstehen? Der Erste muß hier stehen. Wieoft soll ich das denn noch sagen.“Die Frau geht etwa einen halben Meter zurück hinter die unsichtbare Linie. „Er ist heute wieder ganz wichtig“, flüstert eine ältere Frau Martin S. zu. Martin S. legt seinen Zeigefinger auf die Lippen. „Sei bloß ruhig“, flüstert er. Ein Mann kommt mit einer Tüte Milch in der Hand aus dem Laden. Hastig reißt er den Verschluß auf und stürzt die Milch hinunter.

Martin S. ist an der Reihe. Am Eingang trägt er seinen Namen als unleserlichen Kringel in die Liste ein. Er zieht zwei Plastiktüten aus seiner Jacke und geht an die Theke. Der Gelbe kommt. „Habt ihr Euch hier etwa zu zweit angestellt“, fährt er ein Pärchen an, das neben Martin S. steht. Martin S. und das Pärchen gucken sich verdutzt an. Eigentlich ist Platz genug für alle drei an der Theke. „Du gehst jetzt wieder nach hinten“, bellt der Mann in Gelb die junge Frau an und nickt mit dem Kopf in Richtung Tür. Wortlos stellt sich die Frau an die Tür und wartet. „Tja“, sagt der Aufpasser „so ist das hier eben.“

Martin S. ist zufrieden. Mit einer prall gefüllten Plastiktüte verläßt er den Laden. Ein Beutel Rosenkohl, ein Graubrot, eine Packung Philadelphia-Käse, zwei Käsestangen, zwei Liter Milch und ein Stück Kuchen, hat er bekommen. „Das reicht für zwei Tage“, freut er sich, reißt eine Papiertüte auf und stopft sich ein Stück Kuchen in den Mund. Der rüde Ton des Aufpassers läßt ihn kalt. „Weißt du, wenn du soweit unten bist, stehst Du nicht mehr auf, wenn dich jemand behandelt wie den letzten Dreck. Du erwartest ja nichts anderes mehr.“

Der rüde Ton sei „gewiß nicht so gemeint“, sagt Oskar Splettstößer, erster Vorsitzender des Vereins. Die Klientel der Bremer Tafel sei „mitunter auch nicht immer das einfachste“. Da „kann es schonmal passieren, daß die Mitarbeiter, die von morgens bis abens ehrenamtlich für die Bremer Tafel arbeiteten würden, „die Nerven verlieren“. Und von einem Mitarbeiter könne man nicht auf alle schließen.

Kerstin Schneider