Die Mühen der legalen Ebene

■ Albert Sterrs Sammelband „Die Linke in Lateinamerika“ zeichnet den steinigen Weg der revolutionären Neuformierungen nach

Der Herausgeber des Sammelbandes „Die Linke in Lateinamerika“, der Nürnberger Politologe Albert Sterr, räumt in seinem einleitenden Essay kräftig mit linken Träumereien auf. Er skizziert das Bild einer Region, die in den letzten Jahrzehnten tiefgreifende Verwerfungen erfahren hat. Diese machen es unmöglich, linke Geschichte, linke Traditionen – und linke Mythen – einfach fortzuschreiben. Faktenreich zeigt er auf, wie das binnenorientierte Konzept der importsubventionierenden Industrialisierung nach Jahren wirtschaftlicher Depression durch eine weltmarktorientierte neoliberale Wirtschaftspolitik abgelöst wird. Nahezu gleichzeitig vollzieht sich auf der politischen Bühne die Ablösung einer Reihe von Militärdiktaturen durch parlamentarische Demokratien. Dieser Paradigmenwechsel ist auch, so Sterr, der wesentliche Angelpunkt für politische Umgruppierungen und Neuorientierungen. Der Zusammenbruch des realsozialistischen Systems, einst zentraler Bezugspunkt einer Reihe linker Organisationen, läßt zudem nicht nur eine völlig veränderte internationale Lage entstehen, sondern wirft auch ein scharfes Licht auf theoretische Defizite in linken Gruppierungen – was (und wer) ist in dieser Situation überhaupt noch „links“?

Sterr versucht sich mit einer „Annäherung“ an den Begriff, die das Spektrum möglichst weit fassen und die unterschiedlichsten Tendenzen einbeziehen soll – also eine liberale und pluralistische Umschreibung. Er beruft sich auf lateinamerikanische Autoren (Carlos Vilas, Jorge Castañeda u.a.), wenn er die heutige Linke „als Kombination einer Vielzahl von Parteien, sozialen Bewegungen und Ideologien“ bezeichnet. Als zusätzliches Kriterium führt er die Selbsteinschätzung jener „kollektiven Akteure (Parteien, Fronten, Bündnisse etc.)“ an, die sich „selbst zu diesem Teil des politischen Spektrums zugehörig sehen“. Was den kommunistischen und revolutionären Flügel betrifft, vermerkt er die Abkehr von monolithischen Parteistrukturen und ideologischen Alleinvertretungsansprüchen. Jahrzehntealte Mauern zwischen kommunistischen und reformistischen Kräften sind brüchig geworden, Distanzen werden abgebaut, pluralistische Debatten entfaltet, wie in einem Beitrag über das Forum von São Paulo aufgezeigt wird. Außerdem gibt es eine Reihe sozialer Bewegungen und Reformkräfte, die weder in der Arbeiterbewegung verwurzelt noch antikapitalistisch sind, jedoch egalisierende Fragen aufwerfen und „ein hohes emanzipatorisches und demokratisches Potential in sich bergen wie Frauen-, Campesino-, Menschenrechts- und Umweltbewegungen, christliche Basisgemeinden, Pobiadores, Intellektuelle oder kollektive Selbstorganisationen von Indigena und Schwarzen“. Ein weitgefaßter Begriff also, der im Grunde die Möglichkeiten eines großen demokratischen Bündnisses umreißt.

Kritisch setzt sich Sterr auch mit der Praxis lateinamerikanischer Demokratie auseinander. Wiederbelebung des Caudillismus, Technokratie, ziviler und militärischer Autoritarismus und neoliberale Wirtschaftspolitik tragen zur Entleerung des Demokratiebegriffs bei; in manchen Staaten existieren nur noch Rudimente demokratischer Verfahrensweisen. Für linke Politik ist es daher heute zu einer Kernfrage geworden, Demokratie und Menschenrechte zu verteidigen und den Demokratiebegriff „in Richtung einer radikal-demokratischen organisierten Gesellschaft“ auszuweiten, das heißt, unter der Parole der „Partizipation“ die Beteiligung möglichst breiter Bevölkerungsschichten an der Regelung ihrer eigenen Angelegenheiten zu forcieren.

In dem Buch wird auch ein weiteres Problem angesprochen, das durchaus ein allgemeineres ist, nämlich die Schwäche der theoretischen Debatte. Diese schlägt auch in positiven Ansätzen wie dem Forum von São Paulo durch, wo die „Suche nach einer neuen Identität“ zuletzt durch Ratlosigkeit und Berührungsängste vor den Kräften der politischen Mitte beeinträchtigt scheint. Das Buch geht über die linke Nabelschau hinaus. Es ist kein Buch, das alte Mythen fortschreibt, vielmehr eines, das an den neuen Bruchlinien entlang ungelöste Probleme aufzeigt. Und dadurch ist es auch ein Buch, das keinesfalls nur Linke interessieren sollte. Balduin Winter

Albert Sterr (Hg.): „Die Linke in Lateinamerika. Analysen und Berichte“. Neuer ISP-Verlag, Köln, und Rotpunktverlag, Zürich 1997, 320 Seiten, 38 DM