Annabelle ist tot...

...die Intellektuellen reden weiter. Über die Artistik der Erfahrungslosigkeit und intellektuelle Dampfplauderei  ■ Von Bruno Preisendörfer

Das Großwild unter den Worten ist vom Aussterben bedroht. Gott ist schon lange tot, der Mensch wurde in den 60ern von Foucault am Strand beerdigt, das Subjekt, die Wahrheit, die Geschichte siechten hinterher, die Werte verfallen. Seit Jahrzehnten nichts als Verenden. Auch der Intellektuelle liegt im Koma, notdürftig am Leben erhalten von Infusionen aus dem Tropf des Ruhms, den er sich mit Zola und in den ersten beiden Generationen danach erworben hat. Am Krankenbett steht viel Verwandtschaft und streitet sich ums Erbe. Dabei weiß keiner, ob es überhaupt etwas zu erben gibt außer Schulden. Ich stehe in der hinteren Reihe und schleiche mich hinaus. Leise ziehe ich die Tür zu.

Den Intellektuellen gibt es nicht; es gab ihn nie und es wird ihn auch nie geben. Genausowenig wie den Hund. Es gibt zum Beispiel Pinscher. Oder Kurzhaardackel. Oder 101 Dalmatiner. Aber noch nie hat jemand gesehen, wie der Hund ein Bein oder der Intellektuelle den Griffel gehoben hat. Bekanntlich gibt es ja noch nicht einmal den Enzensberger, sondern je nach Zeit und Gelegenheit viele verschiedene. Der Intellektuelle ist eine Handelsmarke. Was herumdenkt, herummeint, herumstreitet, sind die Intellektuellen. Annabelle, ach Annabelle, du bist so herrlich intellektuell – frauenfeindelte einst Reinhard May zur Klampfe. Auch Annabelle ist tot. Wir Intellektuelle reden weiter.

Daß es den Intellektuellen nicht gibt, ist keine große Erkenntnis, bestimmt nicht; eine Banalität. Komisch, daß trotzdem vergnügt die „Krise“ des Intellektuellen besprochen, beredsam sein Schweigen oder sein „Funktionsverlust“ beklagt wird? Norbert Bolz beispielsweise schrieb in der taz: „Die Position des Intellektuellen ist unhaltbar geworden – nun geht es darum, den geordneten Rückzug anzutreten.“ Jawoll, Herr General, machen wir! Bolz schloß seinen Beitrag mit den Worten: „100 Jahre J'accuse – das ist eine prägnante Markierung, um ein Kapitel der Wissenssoziologie zu beenden.“ Na, der hat Probleme. Solche Schlachten schlagen Leute, die nie aus der Schulstube herausgekommen sind.

Aber eigentlich will ich gar nicht Norbert Bolz ans Schienbein treten. Wichtiger ist mir die grundsätzliche Kritik an einer intellektuellen Haltung, aus der heraus Allgemeines über Allgemeines geäußert werden kann, ohne daß man sich selbst Erfahrungen aussetzen oder wenigstens die Erfahrungen anderer beobachten müßte. Marktintellektuelle sind sogar dazu gezwungen, diese eigentlich nicht sehr aufrechte Haltung immer wieder einzunehmen, sonst erwirtschaften sie, wenn sie nicht gerade zu den Stars zählen, nach ihrer Aufwands- und Ertragsrechnung eine Konkursbilanz. Diese Haltung kann zur déformation professionelle werden, zu einer regelrechten Artistik der Erfahrungslosigkeit. Als intellektuelle Dampfplauderei begegnet man ihr häufig bei den Berufsdiskutanten. Sie ist aber in zahlreichen Erscheinungsformen in allen Medien anzutreffen, nicht nur im Fernsehen.

Ein Beispiel für diese Art von erfahrungsfreiem, intellektuellem Meinen entnehme ich wiederum dem Artikel von Norbert Bolz. Er tischt den „Gedanken“ auf, daß „sich heute ohnehin niemand mehr durch Provokationen provozieren läßt“. Das wurde schon so oft und von so vielen Durchschnittsintellektuellen serviert, daß es vom häufigen Aufwärmen schon ganz fad schmeckt. Und falsch ist es auch. Gewiß kann man mit Simulatio-Simulakrum und anderem abgesunkenen Kulturgut aus den akademischen Elitediskursen von vorgestern nicht mehr provozieren. Diese Diskurse sind inzwischen universitär etabliert und wie alles Etablierte: langweilig. Wenn man sich indessen intellektuell mit Themen beschäftigt, deren Diskurse sich noch nicht niedergelassen haben, sondern ihre Wortbedeutung erfüllen und sich bewegen (Diskurs kommt vom lateinischen Ausdruck für Hin- und Herlaufen), wenn man sich also als Intellektueller mit Themen beschäftigt, die auch für Nichtintellektuelle relevant sind, wird man sehr schnell feststellen, daß es nicht nur nicht schwierig ist, zu provozieren, sondern manchmal sogar unvermeidlich, auch wenn man es gar nicht darauf anlegt. Der ganze Bereich der Bio-Ethik etwa ist ein von Provokationen geradezu umzingeltes Thema. Beispiel gefällig? Warum eigentlich muß eine Frau gefragt werden, ob ihrem abgetriebenen Fötus Gewebe entnommen werden darf?

Zu den provokationstüchtigen und provokationsgefährdeten Themen gehört auch die Ökonomie, von der viele Intellektuelle traditionsgemäß sehr wenig verstehen. Da wird mitunter ein unglaublicher Blödsinn dahergeredet. Als ich vor Jahren als Redakteursfrischling zum erstenmal bei einer dieser sogenannten Schriftstellerdiskussionen kiebitzte, war ich voll naiven Entsetzens über das wohlformulierte Nichtwissen, dessen Zeuge ich wurde. Dieses Entsetzen hat sich längst gelegt. Ich habe gelernt, daß Schriftsteller – und nicht die schlechtesten – durchaus dumme Menschen sein können und oft genug auch sind. Übrigens meine ich das gar nicht „kritisch“. Einen guten Schriftsteller, der intellektuell ein Dummerchen ist, lese ich lieber als einen gescheiten Kerl, der schlecht schreibt. Jedenfalls sind die Bezeichnungen „Schriftsteller“ und „Intellektueller“ keine Synonyme, auch wenn meistens, wahrscheinlich „der Einfachheit halber“, so getan wird.

Aber um noch einmal auf die Behauptung von der Entwertung der Provokation zurückzukommen, die Bolz zufolge mit der Konjunktur der Querdenker zusammenhängt, mit dem Aufkommen der „hofierten Störenfriede“. Bolz denkt hier im Wortsinn unkritisch, er kann – oder will – nicht unterscheiden zwischen der medial angepaßten Charaktermaske des „Querdenkers“, der von Podium zu Podium, von Redeschau zu Redeschau tingelt, und dem Intellektuellen, der sich für konsequentes Nachfragen und Nachdenken einsetzt. Heute tritt der Opportunismus gern in der Gestalt des „Querdenkers“ auf, das ist richtig; damit ist aber nichts über ein intellektuelles Denken gesagt, das nicht bloß in der medialen Rollenfiktion, sondern mit der Wucht seiner Konsequenz wirklich als Störenfried zwischen die Meinungsgewohnheiten fährt, und zwar auch auf der linken Seite der Bequemlichkeit. Das aufstörende Denken hat nichts von seiner provokativen und verletzenden Kraft verloren; und es stimmt auch nicht, daß heutzutage alles überall gesagt werden kann. Keineswegs ist dem Gott der Öffentlichkeit alles gleich nah.

Ob der Intellektuelle tot oder derzeit nur ein bißchen mundmüde oder sowieso bloß ein Zombie ist, gehört zu den Diskussionen, die an Stammtischen, die man als Intellektueller öfter mal aufsuchen sollte, um was zu lernen, abfällig als „typisch intellektuell“ bezeichnet werden. Zu Recht. Viel interessanter wäre das nüchterne Mustern der verschiedenen Aufgaben, die sich verschiedene Typen von Intellektuellen jeweils zutrauen können: vom Nachdenken über das Böse für den Philosophierbedarf des quasigebildeten Mittelstands, was ja ein durchaus ehrenwertes Marktangebot ist, über das politische Pamphlet bis zum bioethischen Traktat; von der Beschäftigung mit den Strategien der Marginalisierung in der Wirtschaftspolitik bis zur Analyse der neuen Unwörter der Macht.

In Raymond Queneaus hübschem Roman „Zazie in der Metro“ gibt es einen Papagei mit Namen Laverdure, der sich immer wieder mit einem feststehenden Einwurf in die Diskussionen mischt: „Du quasselst, du quasselst, das ist alles, was du kannst.“ — Und die Arbeit machen die anderen, könnte man mit Schelsky hinzufügen. Nur daß Schelskys berüchtigter Angriff gegen die Intellektuellen seinerzeit das Ziel hatte, die verbissene und verstockte Wiederaufbauarbeit der Deutschen gegen die Einsprüche der „Mahner“ und „Störenfriede“ in Schutz zu nehmen. Diese Mahnerrolle war damals so wichtig, wie sie heute überholt ist. Deshalb wirken Einmischungen, die noch immer diesem Modell folgen – wie etwa die von Grass – heute so rührend. Der Honoratior als Rebell ist eine liebenswerte, aber irgendwie auch lächerliche Figur. Der Intellektuelle ist eine Projektionspuppe, der die Luft ausgegangen ist. Aber die Intellektuellen haben soviel zu tun, wie schon lange nicht mehr.