■ Die 48. Internationalen Filmfestspiele von Berlin gingen gestern mit der Verleihung des "Goldenen Bären" an einen Außenseiterfilm zu Ende. Wie jedes Jahr staunten Kritiker und Filmfans über die Qualitätsunterschiede der Beiträge
: Ein Wahns

Die 48. Internationalen Filmfestspiele von Berlin gingen gestern mit der Verleihung des „Goldenen Bären“ an einen Außenseiterfilm zu Ende. Wie jedes Jahr staunten Kritiker und Filmfans über die Qualitätsunterschiede der Beiträge

Ein Wahnsinn ohne Methode

Kein Lob, keine Kritik, keine These – ein Schrei der Verzweiflung steht am Ende der 48. Filmfestspiele in Berlin. Die Berlinale, die zur Überraschung vieler mit der Verleihung des „Goldenen Bären“ an den brasilianischen Film „Central do Brasil“ von Walter Salles zu Ende ging, ist ein Alptraum! 29 Wettbewerbsfilme, 58 Panoramafilme, 67 Forumsfilme in 11 Tagen, das sind 154 Filme. 14 Filme pro Tag! Nicht mitgerechnet die 9 Kinderfilme, die 87 Filme in der Retrospektive und 49 Kurzfilme. Es ist Wahnsinn, und er hat nicht die geringste Methode.

Das Problem ist nicht die Menge der Filme, das Problem ist vor allem die Unfähigkeit aller Beteiligten – und ich spreche hier vom Wettbewerb, Panorama und Forum –, Ordnung in diese Menge zu bringen. Es ist, als würde man in einem hervorragenden Restaurant eine Bouillabaisse bestellen: Suchen Sie sich doch bitte den Fisch selbst aus, schlägt der Koch freundlich vor – und platsch!, findet man sich mit einem winzigen Kescher bewaffnet im Pazifik rudernd wieder.

Der Wettbewerb wird seit Jahren aus guten Gründen kritisiert: Die großen Verleiher nutzen ihn als billige Promotion für Filme, die noch während des Festivals in die Kinos kommen, der Wettbewerb hat kein Konzept, und Moritz de Hadeln hat auch nach 15 Jahren als Festivalleiter keinen Blick für Filme. Jedes Jahr wieder staunt man fassungslos über die krassen Unterschiede der Wettbewerbsbeiträge. Neil Jordans „The Butcher Boy“ ist ein Wunder an Einfallsreichtum und Intelligenz. Der Film erzählt die Geschichte eines 12jährigen Jungen, Francie, der im Irland der 60er Jahre aufwächst. Katholizismus, Atombombe, Angst vor den Kommunisten – die verrückte, aber doch sehr reale Welt der Erwachsenen und Francies teils gewalttätige, teils blumige Phantasien folgen aufeinander wie eine Welle auf die nächste. Und doch gelingt es Jordan virtuos, den feinen Unterschied zwischen Realität und Wahn festzuhalten. Er besteht darauf, daß dieser Unterschied existiert und daß er wichtig ist. Eine Haltung, die seit Quentin Tarantinos „Pulp Fiction“ nicht sehr populär ist.

Vielleicht muß man einen schlechten Film von Robert Altman akzeptieren, damit er im nächsten Jahr einen guten nach Berlin bringt – Schwamm drüber. Aber warum zum Teufel werden wir gezwungen, einen elend schlecht geschnittenen Kostümfilm wie Pupi Avatis „Der Trauzeuge“ zu sehen? Was hat ein sentimentales Rührstück wie Joan Chens „Xiu Xiu“ im Wettbewerb zu suchen, und warum, verdammt noch mal, holt de Hadeln eine unsäglich verklemmte Schmonzette wie Alfonso Cuaróns „Great Expectations“ ins Programm? Avatis „Trauzeuge“ hat diverse Anschlußfehler, und am Ende verschwindet eine der Hauptpersonen aus dem Film, als hätte der Regisseur sie vergessen. Es gibt einen qualitativen Unterschied zwischen Avati und Jordan, der mit Geschmack nichts zu tun hat. Die schlechten Filme im Wettbewerb sind so schlecht, daß die guten immer wie Zufallstreffer erscheinen.

Mangelnde Auswahlkriterien kann man dem Forum gewiß nicht vorwerfen. Der chinesische Forumsfilm „Xiao Wu“ von Jia Zhang Ke wäre ohne Zweifel ein Kandidat für den Wettbewerb gewesen. Er erzählt die Geschichte eines Diebs in einer Provinzstadt. Während sein bester Freund allmählich zum reichen Unternehmer aufsteigt, geht es mit Xiao Wu unaufhaltsam bergab. Seine Freundin verläßt ihn, eine andere kann er nicht heiraten, weil seine Familie die Hochzeitsfeier nicht bezahlen will, der Vater schmeißt ihn irgendwann aus dem Haus, und schließlich wird er beim Klauen erwischt und verhaftet. Wie ein Hund am Laternenpfahl angekettet hockt Xiao Wu am Ende auf der Straße, von den Umstehenden begafft, die wiederum vom Zuschauer begafft werden. Perfide Rache eines Regisseurs, der seinen Helden bis zuletzt in Schutz nimmt. Jia Zhang Ke hat seinen Film mit Laienschauspielern gedreht. Sein Hauptdarsteller Wang Hong Wei hat viel Ähnlichkeit mit Woody Allen. Einmal sitzt er an einem Tresen, die Beine kompliziert verschlungen, und versucht möglichst cool eine Zigarette zu rauchen, was nicht einfach ist: Jedesmal, wenn er sich eine anzündet, spielt das Feuerzeug „Für Elise“.

Eine Entdeckung, ebenso wie der japanische Film „Radio no jikan“ von Koki Mitani, der sich locker mit Barry Levinsons Wettbewerbsfilm „Wag the dog“ vergleichen kann: Eine junge Frau hat ein Radiohörspiel geschrieben, das live übertragen werden soll. Als die Hauptdarstellerin jedoch darauf besteht, einen anderen – amerikanischen – Namen zu bekommen, nimmt das Unheil seinen Lauf. Wie in „Wag the dog“ muß ständig das Drehbuch umgeschrieben werden. Im Gegensatz zu „Wag the Dog“ hat der Wortwitz in diesem Film jedoch keinen einzigen Durchhänger.

Ob man „Xiao Wu“ oder „Radio no jikan“ mitbekommen hat, ist reine Glücksache. Einzelne Filme drohen im „Forum des jungen Films“ in der Masse des Angebots einfach abzusaufen. Einmal gezeigt und nie wieder gesehen. Kein Forumsfilm hat jemals die Chance, in den Wettbewerb aufzusteigen. Aber auch aus dem Panorama ist nie ein Regisseur in die Riege der Wettbewerbskandidaten aufgestiegen. In welcher Reihe ein Film gezeigt wird, hängt nicht davon ab, wie gut er ist, sondern wer ihn entdeckt hat. Das schadet dem Wettbewerb, aber inzwischen schadet es auch dem Forum. Und am meisten schadet es den jungen Regisseuren. Anja Seeliger, Berlin