■ Daß Rauchen krankmacht, ist keine neue Erkenntnis. Erste Nachweise wurden schon in der Nazizeit erbracht. Lange Zeit interessierte sich niemand für diese Untersuchungen. Der Wissenschaftshistoriker Robert Proctor meint:
: „Das war Weltklasseforschung“

Der Biologe Robert N. Proctor lehrt in den USA an der Pennsylvania State University Wissenschaftsgeschichte und ist Gutachter in Prozessen über Menschenversuche und Zwangssterilisierungen. Proctor schrieb mehrere Bücher über die Verbrechen der Nazimedizin und die Entwicklung der amerikanischen Krebsforschung. Derzeit forscht der Amerikaner über die Krebsforschung während der Nazizeit.

taz: Früher erforschten Sie die Verbrechen der Nazimedizin. Nun zeigen Sie die Nazis als Vorkämpfer der Krebsforschung. Wie paßt das zusammen?

Robert Proctor: Meine Freunde finden es auch verrückt. Ich mag aufwühlende Gegenüberstellungen, und ich mag gute Geschichten.

Warum kam vor Ihnen keiner darauf, daß Rauchen als Ursache von Lungenkrebs erstmals um 1940 in Nazideutschland nachgewiesen wurde?

Weil niemand ein Interesse daran hatte. Die Gesundheitsapostel werden nicht sagen: Tabak ist schlecht für dich, selbst die Nazis wußten das. Die Medizinhistoriker haben genug damit zu tun, die schlimmen Seiten der Nazimedizin zu erforschen. Und die alten Nazis wollen nicht mehr über damals reden. Es ist lästig für alle.

War vorher unbekannt, daß Rauchen schädlich ist?

Möglicherweise wußten es schon die Indianer. Im 19. Jahrhundert war Rauchen aber Luxus. Bis zum Ersten Weltkrieg blieb Lungenkrebs daher ziemlich selten. Der Anstieg in den zwanziger Jahren wurde mit allem möglichen erklärt: mit einer Grippeepidemie, dem zunehmenden Autoverkehr, dem Teer auf den Straßen, auch mit den besseren Möglichkeiten, durch Röntgen Lungenkrebs nachzuweisen, und eben mit dem stark steigenden Tabakkonsum.

Wie wurde der Nachweis geführt?

Er stammt von einem gewissen Franz Hermann Müller in Köln. Er ist ein völliges Rätsel. Seine Akten sind versiegelt und bis heute nicht öffentlich zugänglich. Müllers Dissertation von 1939 war der erste epidemiologische Nachweis, daß Rauchen die wichtigste Ursache von Lungenkrebs ist. Er demonstrierte es aber noch nicht so schlüssig wie Eberhard Schairer und Erich Schöniger 1943 am Institut zur Erforschung der Tabakgefahren an der Universität Jena. Das war Weltklasseforschung. Schairer und Schöniger verwendeten ein ausgeklügeltes System von Kontrollgruppen. Die Wahrscheinlichkeit, daß ihre Resultate Zufall waren, ist unter eins zu einer Million, also statistisch extrem zuverlässig.

Bisher glaubte man, der Nachweis erfolgte erst in den Fünfzigern?

Richtig. Der Brite Richard Doll wurde dafür geadelt, für den Nobelpreis nominiert und zum berühmtesten Epidemiologen der Welt. Er kannte die Arbeit von Schairer und Schöniger nicht, bis ich ihm den Aufsatz schickte. Doll ist ziemlich besorgt darüber, weil sein Entdeckerruhm in Gefahr ist. Die ursprünglichen Forscher schwiegen, vermutlich, um politische Verstrickungen unter der Decke zu halten. Schöniger blieb nach dem Krieg in der Krebsforschung, hat aber seine eigene Entdeckung nicht zitiert.

Wurden Schairers und Schönigers Ergebnisse umgesetzt?

Als der Krieg auf sein Ende zuging, hatte die Antiraucherbewegung an Bedeutung verloren. Es gab zwar noch neue Maßnahmen. 1944 verbot Hitler das Rauchen in Straßenbahnen. Bei einem Besuch in München sah er junge Schaffnerinnen, die den Rauch einatmeten, und bestimmte: „Eine deutsche Frau raucht nicht.“ Vorher war Rauchen schon in allen Parteiämtern und SS-Gebäuden, in Postämtern und Luftwaffenbaracken verboten.

Während seiner Wiener Jahre rauchte Hitler selbst zwei Päckchen am Tag...

...und sagte später, das Dritte Reich wäre nie erstanden, hätte er damit nicht aufgehört. Hitler wurde fanatischer Nichtraucher. Er gab persönlich aus der Kasse der Reichskanzlei 100.000 Reichsmark an das Institut in Jena. Damit wurden auch Schairer und Schöniger finanziert.

Welchen Einfluß hatten die Forschungen auf den Krieg?

Zu Kriegsbeginn war sehr umstritten, ob die Wehrmacht Zigaretten erhalten sollte. Hitler nannte es später einen großen Fehler, den Soldaten Tabak gegeben zu haben. Damals erschien eine ganze Serie von Studien, die zeigten, wie Tabak die Kampfkraft der deutschen Soldaten schwächte. Die Kampagne gegen Rauchen erreichte ihren Gipfel zwischen 1939 und 1941. Man sprach von einer Endlösung der Tabakfrage.

So weit kam es dann aber nicht.

Goebbels war einer der wenigen Raucher unter den führenden Nazis. Er machte sich Sorgen, weil soviel von Tabak als Volksfeind die Rede war. Im Sommer 1941 befahl er, die Propaganda gegen Tabak abzuschwächen, obwohl Hitler in einem Brief ihre Fortsetzung verlangte. Eine klare Linie gab es eigentlich nicht.

Wird Ihre Forschung eigentlich von der Nichtraucherbewegung finanziert?

Nein, die mag diese Ergebnisse nicht. Das Holocaust-Museum in Washington hat die Arbeit unterstützt und das Institut für Sozialforschung in Hamburg, wo ich 1994 acht Monate lang Gastprofessor war. Der Leiter und Mäzen des Instituts, Jan Philipp Reemtsma, hat in der Tabakfirma seiner Familie zwar nichts mehr zu sagen, aber das Geld kam doch von ihr. Als sein Institut in München die Ausstellung über die Wehrmachtsverbrechen zeigte, wurde er von einem Politiker angegriffen...

...Sie meinen vom Münchner CSU-Chef Peter Gauweiler...

...der forderte, Reemtsma solle lieber die Erforschung der Tabakschäden fördern. Die Antwort ist, er hat sie gefördert.

Wie steht Jan Philipp Reemtsma zur Geschichte seiner Familie?

Sehr offen. Er hat keinen Zugang zum Firmenarchiv, aber er hat mir sein privates Archiv geöffnet. Er hat mir erzählt, daß seine Eltern an durch Rauchen verursachtem Blasenkrebs starben. Ende der dreißiger Jahre kontrollierte Reemtsma 80 Prozent des Tabakmarktes in Deutschland. Vor 1933 hatte jede politische Gruppe noch ihre eigene Marke. Die Reemtsma-Zigarette wurde die Judenzigarette genannt. Wegen der SA-Angriffe zog Reemtsma seine Anzeigen aus den Publikationen der Nazis zurück. Noch vor 1933 gab er Göring ein Rubens-Gemälde und zehn Millionen Reichsmark. Dafür wurde ihm ein Treffen mit Hitler arrangiert. Hitler befahl der SA, die Attacken zu stoppen. Reemtsma schaltete dann wieder Anzeigen.

Trotz Hitlers Einstellung zum Rauchen?

Am Anfang brauchte Hitler das Geld. Große Unterstützung erhielt die Antiraucherbewegung erst Ende der dreißiger Jahre.

Argumentiert die Tabaklobby jetzt: aha, schon die Nazis haben das Rauchen bekämpft?

Ich bin auf diese Weise vereinnahmt worden. Ein kanadischer Aufsatz, der mich zitiert, spricht von Nikonazis und Nikofaschismus, Niko für Nikotin. Da wird behauptet, Rauchverbote seien faschistisch. Aber man kann nicht nur beachten, was einem gerade in den Kram paßt. Die Nazis hatten ja viele Ziele und Vorstellungen. Sie waren nicht alle oder nur Judenhasser, sondern sorgten sich auch um die Gesundheit. Die Erforschung der Tabakschäden war nur ein Punkt in ihrem Kampf gegen den Krebs. Daß Nazis gute Forschung machten, wiegt nicht den Völkermord auf. Es ist absurd, überhaupt so zu reden. Wir müssen akzeptieren, daß Wissenschaft mit den Praktiken des Faschismus nicht unvereinbar ist. Diese Sichtweise ist subtiler, als die Nazis zu dämonisieren.

Mischen Sie sich als Wissenschaftshistoriker auch ein?

Ich habe kürzlich ein langes Rechtsgutachten geschrieben. Die Rockefeller-Stiftung und die Vanderbilt University sind angeklagt, 829 schwangeren Frauen zwischen 1945 und 1947 ohne ihr Wissen radioaktives Eisen verabreicht zu haben. Ich zeige, daß damals genug bekannt war über die Gefahren von Radioaktivität und daß informiertes Einverständnis bei anderen Reihenversuchen schon praktiziert wurde. Es läuft auf eine wissenschaftshistorische Debatte heraus. Wer wußte was und wann, davon hängt alles ab.

Haben Ihre Arbeiten ein gemeinsames Thema?

Mich interessiert die soziale Konstruktion von Ignoranz. Es gibt Hunderte geheimer wissenschaftlicher Zeitschriften, ein Viertel der Wissenschaftler weltweit unterliegt militärischer Geheimhaltung. Warum dauerte es solange, bis Strahlenschädigung beim Fliegen nachgewiesen wurde? Weil das Flugzeugpersonal keine Meßgeräte tragen durfte. Sonst hätten die Passagiere ja unangenehme Fragen gestellt.

Ist Ignoranz ein Thema für Wissenschaftssoziologen?

Ignoranz ist der Raum, den die Wissenschaft noch nicht erobert hat. Wissen wird nicht nur geschaffen, es geht auch verloren oder wird verdrängt. In der Welt ist viel mehr Ignoranz als Wissen. Aber das Thema Ignoranz wird ignoriert. Interview: Stefan Löffler