Der Schädelboden des Herrn Ade

■ Berliner Zimmer, Teil 7. Eine Besuchsreihe von Falko Hennig

Manfred Ade:

Ich bin Manfred Ade, Doktor der Zoologie und Evolutionsbiologe. Mit zwölf hab' ich angefangen, Insekten und Spinnen ... Weiß nicht woher's kommt, von meinen Eltern kann's nicht kommen, das sind selbständige Handwerker, hatten 'nen Handwerksbetrieb. Ich hab' Biologie studiert, mich nach dem Grundstudium für die Zoologie entschieden, genauer gesagt: vergleichende Morphologie. Ich hab' dann meine Diplomarbeit geschrieben und bin hierhergeholt worden, weil ich eine bestimmte Fachrichtung vertrete, die hier gefragt ist.

Das hier ist der Schädelboden. Schädelboden und Geweihkeller sind keine offiziellen Namen, das sind die Schädel- und die Geweihsammlung. Der Geweihkeller heißt so, weil überwiegend Geweihe da unten sind, es sind auch noch Schädel und Häute da. Das ging etwa Anfang des 18. Jahrhunderts los, als Naturalienkabinett unter der Schirmherrschaft des damaligen Königs. Den Krieg hat das weitgehend alles heil überstanden. Das einzige, was im großen Stil ausgelagert wurde, war die Bibliothek.

Hier ist die Säugetierabteilung, das sind also die Schädel der Säugetiere. Das sind keine Saurierschädel, das sind Wale, Zahnwale, manche Wale haben so Barten, manche haben Zähne. Übrigens paßt das ganz gut mit dem Sauriergebiß, weil die Zähne sind homodont, alle Zähne sind gleichförmig, während das Säugetiergebiß sonst aus ganz verschiedenen Zähnen besteht: Reißzähnen, Eckzähnen, Mahlzähnen. Es könnte auch ein Fischsaurier sein, vom ersten Eindruck.

Dann gibt's aber noch was ganz Wichtiges, das sind die Typen. Es gibt hier auch Typen-Exemplare, das sind die Exemplare, von denen weg Arten beschrieben werden. So 'ne Art Urmeter, wo dann jeder anreisen kann und gucken: Ja, war das denn überhaupt diese Art, die ich gefunden hab'? Japaner, Amerikaner, Russen, hier kommt alles weltweit. Es ist etwa die drittgrößte Sammlung dieser Art, New York und London sind noch größer. Mit jeder Art, die ausstirbt, geht Information über die Geschichte des Lebens auf der Erde verloren. Es geht Information verloren darüber, wie diese Tiere entstanden sind und welche Faktoren letztlich ihr Entstehen bewirkt hat. Man kann nur Aussagen machen, was passiert, wenn die wegsterben, wenn man die Faktoren kennt, welche die Entstehung bestimmter Faunen oder Floren definieren oder determinieren.

Im Grunde macht man Faktorenanalyse, die uns hilft, die Zukunft einzuschätzen. Diese Information geht uns dadurch verloren, wenn die Tierart ausstirbt. Dann können wir nicht einschätzen, was das für das ökologische Gleichgewicht global für Folgen hat. Wenn massiver Raubbau weiterhin getrieben wird, das kann man im Moment nicht abschätzen. Man sollte vielleicht erst ausbeuten, nachdem man kapiert hat, was man macht. Daß das Karnickel in Australien ganze Landstriche verwüstet hat und auch die Existenzgrundlagen der Beuteltiere untergraben hat, das sind Phänomene, die passieren nur unter Einfluß des Menschen. Es ist sehr schwierig, solche Prozesse wirklich nachzuweisen in der Vergangenheit, wo es noch keine Menschen gab. Nach eigenen Schätzungen befindet sich der Fossilbefund in etwa im Promillebereich von dem, was es überhaupt gegeben hat. Da jetzt genau zu analysieren, was passiert ist, ist immer schwierig.

Der Geweihkeller, das ist die Geweih- und Gehirnsammlung. Überwiegend sind hier Schädel mit Gehörn oder Geweih. Solche Sammlungen sind woanders auch üblich, wobei das hier eine der umfangreichsten ist, gerade was Großsäuger angeht. Diese Sammlung ist auch um die Jahrhundertwende angelegt worden, so was macht man heute nicht mehr. Das kommt aus der Zeit der Großwildjägerei, Afrika. So was machen heute Zoologen weniger, daß man ganze derart große Serien von Tieren, von Großsäugern, anlegt.

Großsäuger können Sie relativ einfach beobachten, Sie können auch deren Verbreitung relativ einfach feststellen, und dann reichen kleine Stichproben, um festzustellen: Wie sehen die eigentlich in einem bestimmten Gebiet aus? So was haben Sie bei kleinen Säugern nicht, weil die können Sie gar nicht sehen, da müssen Sie Fallen stellen, daß Sie die kriegen. Deshalb kommen bei Kleinsäugern relativ große Aufsammlungen zustande, und bei Großsäugern braucht man es seltener oder fast gar nicht mehr. Bei Formen, die selten oder deren Lebensräume bedroht sind, da wird's natürlich völlig unmöglich, daß man da überhaupt noch Tiere umbringt in so großen Serien. Dann greift auch der Naturschutz.

Hier in diesen großen Gläsern sind Häute oder Embryonen. Das hier ist aus dem Zoologischen Garten, ein Elefantenrüssel. Aus diesem Glas ist der Alkohol verschwunden, das passiert, weil es hier sowenig Leute gibt, ein eklatanter Notstand an Personal.

Das führt ab und zu mal dazu, daß hier wirklich Sachen hopps gehen, wie Sie hier sehen. Das ist undicht geworden, hat man dann vielleicht ein oder zwei Jahre nicht gemerkt, weil die Sammlung so abartig riesig ist, und dann ist es irgendwann halt mal zu spät. Wegwerfen? Da muß man noch gucken, was man mit machen kann. Manchmal kann man's wieder aufweichen. Und bestimmte Dinge gehen ja nicht kaputt, das Skelett oder so.

Ich mach' das mal hier auf, die Flüssigkeit ist achtzigprozentiger Alkohol, das ist ein Brustkorb, Teile eines Walbrustkorbes. In Hamburg, das hat man mir erzählt, aber das ist keine direkte Quelle, über ein paar Ecken, daß es wohl polnische Kriegsgefangene gab, die dort gearbeitet haben und die ab und zu den Alkohol getrunken haben, aus den Gläsern mit Tieren und Verschiedenem. Im Schädelboden oben find ich's schöner, weil es ist hier noch diese Jahrhundertwende-Atmosphäre.