Fischer ist eine Frau

Joschka F. ist nicht der einzige grüne Star in Bonn. Seit Samstag hat auch Andrea Fischer erneut einen Listenplatz  ■ Aus Berlin Vera Gaserow

Eine Sonnenblume für die frisch gekürte Spitzenkandidatin, eine verschämte Freudenträne und eine ausgebliebene Blamage. Es hätte ja auch passieren können, was die Grünen im fernen Bonn schon vorsorglich „eine Katastrophe“ genannt hatten: daß die Basis der Berliner Grünen in der ihr eigenen Unberechenbarkeit ausgerechnet den eigenen Shooting-Star von der Bonner Bühne kippen könnte. Doch nach fünfstündiger Diskussion stand am Samstag abend fest: Andrea Fischer, fraktionsübergreifend anerkannte Sozialexpertin der grünen Bundestagsfraktion, wird als Spitzenkandidatin für die Berliner Grünen in den Wahlkampf ziehen. Annäherung an eine politische Senkrechtstarterin.

Zwölf Stunden Termine nonstop, immer selbstbewußt und gut informiert sein und als Frau auch noch charmant. Geduldig zuhören, für alle ein offenes Ohr haben – Wahlkreisbesuche sind eine Ochsentour, und wenn der Wahlkreis Hellersdorf/Marzahn heißt, führt die Tour in die Diaspora. Hier, in Berlins größter Plattensiedlung, ist der Osten noch farbecht rot, hier holt sich Gregor Gysi fast ohne Wahlkampf seine 50 Prozent. Als Grüne könnte man genausogut mit einer Gießkanne in die Sahara ziehen. Auch dieser Tag verspricht kein prickelndes Heimspiel. Auf dem Terminzettel stehen „Besuch der Müllsortieranlage“, „Gespräch mit Vertretern der örtlichen Wohnungsbaugesellschaft“, „Bürgersprechstunde im Restaurant Oberfeld“. Zu der hat sich dieses Mal Von Dortmund in den farbecht roten Osten

sogar ein Bürger angekündigt. Einer mehr als am Nachmittag im evangelischen Kindergarten. Da stand „Kaffeetrinken mit Eltern und Kindern“ auf dem Programm, nur daß sowohl der Kaffee als auch die Eltern fehlten. Höflich wartend hatte Andrea Fischer ihre gemütliche Fülle auf einem lächerlich winzigen Kinderstuhl plaziert. Muß man sich das antun als Bundestagsabgeordnete?

Man kann es auch anders sehen. „Dieser Wahlkreis ist doch hoch spannend. Er öffnet mir immer wieder den Blick auf den Osten.“ Andrea Fischer redet sich gern in Begeisterung hinein. Außerdem: Es ist doch ein herrlich sonniger Wintertag gewesen, aus dem Autoradio hatte ihr Lieblingssaxophonist gute Laune verströmt, und das Gespräch mit den Herren von der Wohnungsgesellschaft, war das nicht „hoch spannend“ gewesen?

„Hoch spannend“ ist eines ihrer Lieblingswörter. „Hoch spannend“ ist fast alles an der Politik und war es eigentlich schon immer: im katholischen Elternhaus in Dortmund, wo die Mutter – „eine klassische ehrenamtliche Caritas- Frau“ – am Küchentisch Migrantenkindern bei den Schulaufgaben half. Wo abends mit dem Vater, einem namhaften CDU-Sozialpolitiker, „die Fetzen flogen“ über seine Haltung zum Paragraphen 218. Wo die christliche Erziehung die politischen Weichen nachhaltiger prägte, als das Linkssein lange erlaubte. „Zu Hause“, sagt Andrea Fischer, „habe ich mitgekriegt, daß man sich einfach zu kümmern hat.“ Die Lektion hat gesessen. Sie hat sich „gekümmert“, erst in der Gewerkschaftsjugend, auch mal bei den Trotzkisten, bei der ÖTV und seit 1985 bei den Grünen. Ein Leben ohne politische Einmischung? „Nicht vorstellbar.“

Beide Zeigefinger fahren durch die Luft, die Arme holen zu einladenden Bewegungen aus, der Körper hüpft von der Sitzfläche hoch – wenn die 38jährige über Politik redet, klingt das, als wären Rentenanpassungsformel und dritte Stufe der Pflegeversicherung die aufregendsten Dinge der Welt. Dann hastet die rauchige Stimme dem Tempo des Kopfes hinterher, dann redet sie die Welt schwindelig. Manchmal ist sie sich der eigenen Ideen gar nicht so sicher, will sie eher debattieren als durchsetzen. Manchmal – wie bei der sozialen Grundsicherung – reifen ihre Vorschläge zu einem Parteikonzept.

Eineinhalb Jahre ist Andrea Fischer durch die Lande getourt, um der grünen Basis „ihr“ Kind nahezubringen, die gesetzliche Mindestsicherung jenseits von Arbeitslosen- und Sozialhilfe oder Niedrigrente. Im November nahm der Grünen-Parteitag in Kassel ihr Konzept an – Fischers bisher größter Erfolg. Überzeugt hat sie die Delegierten wohl weniger mit Zahlen und Fakten. Die hat sie alle parat. Die breite Zustimmung brachte eher die Begeisterungsfähigkeit ein, mit der sie vertrat, wovon sie – auch das ein Lieblingswort – „zutiefst überzeugt“ ist: daß der Sozialstaat reformierbar ist, wenn man zum Abschied von alten Instrumenten bereit ist und den Mut hat zu unideologischen Experimenten.

Eine Stunde sollte das Gespräch mit den Geschäftsführern von der Wohnungsgesellschaft im Wahlkreis dauern. Nach zwei Stunden gucken die Herren mit den neckischen Bärchenschlipsen noch immer nicht zur Uhr. Dabei hatten sie die Grüne anfangs mitleidig belächelt: Hier wollen Sie Wahlkampf machen? Doch dann hatte Andrea Fischer ihr spitzbübisch-kokettes Lachen angeknipst, und nach zweistündiger angeregter Diskussion wünschen die Wohnungsmanager zum Abschied „viel Glück für den Wahlkampf und so viel Elan, wie Sie hier heute gezeigt haben“. „Die Andrea“, heißt es aus der Grünen- Bundestagsfraktion, „ist ein kommunikatives Naturtalent“.

Vielleicht ist es das, was der parlamentarischen Newcomerin innerhalb kurzer Zeit mehr Aufmerksamkeit eingebracht hat, als sie für Frauen im Bundestag üblich ist: ihre Art, Politik zum Expeditionsziel persönlicher Neugierde zu machen, zum beinahe lustvollen Unterfangen. Ein Politikertyp, der auch bei den Grünen nicht viele Vorbilder hat – nicht missionarisch asketisch wie eine Petra Kelly, nicht schwermütig moralisierend wie eine Antje Vollmer und nicht APO-geschult agitierend wie ein Jürgen Trittin. Andrea Fischer predigt keine Gewißheiten, sie wirbt für Denkmodelle und – wenn's sein muß – für unbequeme Wahrheiten.

Auch Fischers Vorschläge zur Renten- oder Gesundheitspolitik harmonieren nicht immer mit grünen Reinheitsgeboten. „Ich soll auf Blüm und Kohl draufhauen, aber manchmal gelingt mir das nicht. Man kann nicht nur rufen: Sozialabbau ist eine Sauerei! Sozialpolitik ist nicht allein mit Moral zu machen. Sie will auch bezahlt sein.“ Ähnlich sehe es bei der Ökosteuer aus, die entsprechende Kosten nach sich ziehe – was den meisten Wählern auch klar sei. „Wir können doch nicht allen versprechen, mit uns werdet ihr reich und glücklich.“

Säuerlich beobachteten vor allem die selbsternannten Gralshüter linker Sozialpolitik, die Sozialdemokraten, wie da ein Greenhorn – fachkundig und unorthodox – im angestammten Revier wilderte und manchen Grenzzaun zur CDU einriß. SPD-Sozialexperten wie Rudolf Dreßler beäugten die junge Konkurrentin lange mit Argwohn, unterstellten ihr mal „Naivität“, mal „Anbandeln“ mit freidemokratischen Neoliberalen. Mittlerweile hört man eher respektvolle Anerkennung: „Kompetent“ sei sie, „experimentierfreudig“. Und fragt man Arbeitsminister Blüm nach der Frau von der Opposition, lobt er „ihre Courage und ihren Sachverstand“.

Applaus von gegnerischer Seite, innerparteiliche Erfolge – das schafft nicht nur Freunde. Andrea Fischer hat das Glück der Tüchtigen gehabt. Ihr ureigenes Thema, die Sozial- und Rentenpolitik, hat Konjunktur, und bei den Grünen lag dieses Politikfeld sträflich brach. Fischer hat es sich genommen und beackert. Dabei ist sie so Die Journaille liebt solche handfesten Leute

rasch die politische Leiter aufgestiegen, daß sie oft ganz kurzatmig neben sich steht. Mehr Sicherheit zeigen zu müssen, als man wirklich hat, strengt an. Selbst wenn der sorgsam geschminkte Mund sein verschmitztes Lächeln aufsetzt, der Hals zeigt nun mal nervöse Flecken, und die Finger knüllen Papierschnipsel im Akkord.

Offene Kritik an ihr hört man selten, unterschwelligen Neid schon eher. Daß sie keiner der grünen Strömungen zuzuordnen ist, viele „Fans“ hat, aber keine Seilschaft, macht den Umgang mitMißgunst nicht leichter: Früher gehörte sie zum linken Forum bei den Grünen, heute ist sie nicht böse, wenn man sie als Reala bezeichnet. Aber auch dieses Etikett klebt merkwürdig schief auf einer Grünen, die gegen den Bundeswehreinsatz in Bosnien und die Nato-Osterweiterung stimmt und auf die Frage, welche Politiker sie bewundert, nach Willy Brandt „den Schäuble“ nennt, „wegen seiner politischen Fähigkeiten“. Ein Gerhard Schröder macht ihr angst, „weil ich bei ihm kein inneres Koordinatensystem entdecke“, einem Lafontaine wird sie den „Sündenfall, daß er Landtagswahlkampf auf Kosten von Aussiedlern gemacht hat“, nie verzeihen. Da ist sie nachtragend wie ein Elefant.

Robuste Statur, burschikoses Auftreten, schallende Lache – die Journaille liebt solche handfesten Leute. „Die Fischer“, heißt es, läßt sich wie ihr grüner Namensvetter „gut verkaufen“. Charmante Frohnatur, gepaart mit kluger Nachdenklichkeit, kein schlechtes Markenzeichen für eine Politikerin. Nur schützt dieses Etikett vor Unsicherheit nicht.

Andrea Fischer ist keine souveräne Taktiererin, eher eine ehrgeizige Kämpfernatur. Sie will etwas erreichen, hat auch zu konkurrieren gelernt und läßt sich von Niederlagen doch kalt erwischen. Als sie im Herbst den Zweikampf um ein aussichtsreiches Berliner Direktmandat in Kreuzberg verlor, gratulierte sie ihrem Kontrahenten Ströbele mit einer Umarmung. Am nächsten Tag holte sie der große Jammer ein: „Das Abstimmungsergebnis, das war gegen mich als Person gerichtet.“

Fast trotzig hatte sie auch alle Auffangseile durchtrennt, die die Bundespartei ihr angeboten hatte, falls die Berliner sie am Wochenende auf einen aussichtslosen Listenplatz gesetzt hätten. Ohne Netz ist sie in die Arena gegangen. „Ich will wissen, ob die mich wollen oder nicht.“ Sie haben sie gewollt.