50 Jahre Sendepause

Abschalten und Umschalten: Die vom Buchdruck gestiftete Symbiose zwischen Intellektuellen und Publikum funktioniert nicht mehr. Wie kann auf der Basis von Bildern kritisches Wissen entstehen?  ■ Von Dirk Baecker

Das Problem vieler Intellektueller besteht heute vor allem darin, daß sie ohne Ressourcen operieren. Sie haben sich von wesentlichen neueren Strömungen der Theoriearbeit und von weitreichenden praktischen Umstellungen in der gesellschaftlichen Praxis abgekoppelt. Sie fallen vielfach nur noch dadurch auf, daß sie auf Positionen beharren, die in der Gesellschaft als Erinnerungsposten an vergangene Konfliktlinien ihren Charme haben, aber nicht mehr als Einsätze für aktuelle Problembestimmungen gelten können.

Walter van Rossum hat an das Diktum Sartres erinnert, daß sich die Tiefe der Texte von Intellektuellen aus ihrem Publikum bestimmt. Das ist ein wichtiger Hinweis. Das Publikum der klassischen Intellektuellen, der philosophes der französischen Aufklärung, war gleichermaßen national und kosmopolitisch definiert. Es bestimmte sich aus dem laufenden Vergleich der gerade entstehenden Nationen untereinander und war freizügig in seinem Versuch, die Merkmale jeder Nation nicht nur auf ihre Identität hin abzusichern, wie man es heute liebt, sondern auch untereinander auszutauschen und die Nation jenseits ihrer eigenen Grenzen zu denken. Der Intellektuelle bediente diese Interessen.

Er kannte sich aus mit verschiedenen Nationen und verschiedenen Epochen, topischen und utopischen, und sprang von der einen zur anderen, um zu schauen, wie die Bedingungen beschaffen sind, unter denen Menschen glücklich leben können. Er stellte das Unglück, wo er es finden konnte, und wies darauf hin, daß man anderswo längst glücklicher lebte oder zumindest — das war dann die Rückzugsposition, als die Kenntnisse sich verbesserten — glücklicher leben könnte, wenn man nur einsähe, daß die Bedingungen dazu schon fast mit Händen zu greifen waren.

Lesen und lesen lassen, einsam und still

Texte waren das Medium, in dem der Intellektuelle als Virtuose des Vergleichs sein Auskommen fand. Er hatte Texte gelesen, in denen vom Glück und Unglück der anderen die Rede war. Er konnte die Texte schreiben, in denen er seine eigenen Beobachtungen festhielt. Und vor allem konnte er sich auf ein Publikum verlassen, das seinerseits Texte las und damit eine gesellschaftliche Praxis realisierte, die erst der Buchdruck ermöglicht hatte.

Dank des Buchdrucks konnte man einsam und still, entlastet von den Zustimmungs- und Ablehnungszumutungen des Gesprächs, lesen und dann erst wieder den Kontakt zu anderen aufnehmen. Man konnte ungleich unwahrscheinlichere Positionen beziehen, konnte darauf zählen, daß auch die anderen gelesen hatten, beziehungsweise sie darauf hinweisen, daß sie lesen könnten. So konnte man weitreichendere Bezüge als je zuvor verfolgen.

Politische Kalküle, wirtschaftliche Projekte, erzieherische Absichten, religiöse Postulate, wissenschaftliche Erkenntnisinteressen und nicht zuletzt auch verfeinerte Liebesentwürfe rückten erst auf dieser Grundlage des Lesenkönnens und der Beobachtung anderer als Leser in den Bereich des Möglichen.

Heute weiß sich das Publikum nicht mehr darin einig, daß es lesen kann, sondern darin, daß es Bilder gesehen hat. Bilder funktionieren jedoch ganz anders als Texte. Sie sind schneller, sie sind affirmativer, sie besetzen die Imagination. Sie konfrontieren simultan mit einem hochkomplexen Eindruck, vor dem die sequentiellen, vor- und zurückblätternden Lektüreverfahren, die den Texten angemessen waren, versagen.

Arbeit des Vergleichs und der Kritik

Vor allem jedoch ist es schwierig, sich zu Bildern in ein Negationsverhältnis zu begeben. Damit jedoch, ablehnen zu können, und zwar bestimmt und bestimmbar ablehnen zu können, begänne erst jene Arbeit des Vergleichs und der Kritik, die man „intellektuell“ nennen könnte. Natürlich geschieht diese Arbeit, und sie führt zu Texten und zuweilen auch zu Filmen, aber sie hat kein Publikum, denn das legt sich die Bilder nicht textförmig, sondern durch Abschalten und Umschalten zurecht.

Die vom Buchdruck gestiftete Symbiose zwischen Texten, Intellektuellen und Publikum funktioniert nicht mehr. Und damit funktioniert ein bestimmtes Prinzip der gesellschaftlichen Verständigung über der Gesellschaft nur noch unter jenen unhappy few, die die Zeichen der Zeit zwar lesen können, aber auf die Praktiken des 18.Jahrhunderts vertrauen, um mit ihnen umgehen zu können.

Ohne es zu merken, hatten die Intellektuellen in den vergangenen 50 Jahren Sendepause. Sie spielten die Begleitmusik, die unverzichtbar war beim Abschied vom faschistischen Syndrom in Ost und West, aber ob ihre Beiträge irgend etwas an der Wahrscheinlichkeit von dessen nächstem Ausbruch geändert haben, muß man bezweifeln. Wir sind moralisch auf der besseren Seite. Aber mit welcher Gesellschaftsstruktur haben wir es inzwischen zu tun?

Die Bedeutung der faschistischen Problemstellung und die Aufgabe der Moral hat den Intellektuellen den Atem genommen. Sie haben sich einem Umerziehungsprogramm gewidmet, ohne zur Kenntnis zu nehmen, wie sich die Gesellschaft selbst umzuerziehen begann. Sie notierten unerbittlich die Rückfälle, jedoch ohne mitzubekommen, wie sich die Kontexte verschoben.

Währenddessen gab es andere, großformatigere, kritischer anzusetzende, um die Moral der Sache scheinbar unbekümmerte Projekte, die die theoretischen Ressourcen, auf deren Grundlage die Gesellschaft sich selbst beschreibt, neu bestimmte. In der Informationstheorie und in der Kybernetik, in der Soziologie und in der Literaturwissenschaft wurden Hypothesen formuliert, die die Beschreibung der Gesellschaft aus ihrer bisherigen, jetzt erst in ihrem ganzen Umfang aufgedeckten Orientierung am Buchdruck herauslösten.

Die Informationstheorie machte auf Begrenzungen des sequentiellen Textverständnisses aufmerksam. Die Kybernetik sprengte das beruhigende Subjekt/Objekt- Schema, das es dem einzelnen erlaubt, einerseits ganz subjektiv objektive Aussagen zu treffen und sich andererseits aus den eigenen Aussagen herauszuhalten. Die Soziologie zeigte auf, wieweit die auf dem „Prinzip Buchdruck“ beruhende Ausdifferenzierung sozialer Systeme inzwischen über den Buchdruck hinausgewachsen war. Und die Textphilosophie begleitete diesen „Abschied vom Text“ mit textkritischen und kontextsensiblen Texten, die auf semantische und strukturelle Verwicklungen aufmerksam machen, von denen sich Leser und Autoren zuvor kaum eine Vorstellung machen konnten.

An den Intellektuellen ging all dies fast vollständig vorbei. Wenn es den Intellektuellen an Wissen fehlt, dann an einem Wissen von diesen Entwicklungen. Es wird ihnen leicht fallen, sich wieder auf die Höhe der Zeit zu bringen, wenn es ihnen gelingt, ihre eigenen Textmodelle zu reflektieren. Allerdings ist nichts schwerer als das, zumal es zur intellektuellen Geste gehört, die eigenen Texte an der Differenz zum Leben zu orientieren und sich selbst auf der anderen Seite zu verorten.

Clowns in den Nischen der Massenmedien

Ob der Intellektuelle eine Zukunft hat, ist unklar. Er hat seine Nischen in den Massenmedien, als Stichwortgeber, Moderator, Provozierer und Clown vom Dienst. In seinen Salons, die er zuweilen führt, kann man feststellen, daß man nicht der einzige ist, der noch liest. Aber darüber hinaus hat er die Tuchfühlung zur Gesellschaft verloren. Dabei geht es nicht nur darum, daß die Gesellschaft sich vom „Prinzip Buchdruck“ auf das „Prinzip Computer“ umstellt und niemand eine Ahnung hat, was das bedeuten könnte. Es geht nicht darum, daß das Publikum es heute mit Bildern zu tun hat und nicht nur mit Texten. Sondern es geht darum, daß nicht nur der Intellektuelle, sondern auch eine ganze Reihe anderer Institutionen gegenwärtig Opfer des Abschieds vom „Prinzip Buchdruck“ zu werden beginnt.

Das Unternehmen, die Universität, das Parlament, die Kirche, die Schule müssen wie der Intellektuelle heute entdecken, daß sie für ihre hierarchische Ordnung, ihre Kompetenz- und Autoritätsunterstellungen, ihre Diskursmodelle, ihre Dogmen und ihre Erziehungsideen auf ein Prinzip Schriftlichkeit angewiesen sind, das die eigenen Anschlüsse durch Ausschlußpraktiken organisiert. Unter großen Schmerzen „dekonstruieren“ sich diese Institutionen heute selbst, und Heerscharen von Beratern sind unterwegs, diesen Prozeß zu begleiten. Weitgehend unbeachtet vom Publikum, begleitet von Beschreibungen, die in intellektuell glanzlosen Texten zu finden sind, und größtenteils ohne Kenntnis vergleichbarer Entwicklungen (weil jede Organisation sich für einzigartig hält), zerbröckeln hier Ordnungsmodelle, die der Gesellschaft nicht nur im Sozialismus, sondern auch im Kapitalismus bürokratischen Halt gaben.

Wenn der Intellektuelle die Textwelt, die er selbst mit auf den Weg brachte, überleben will, muß er sich damit beschäftigen, wie er Geburtshelfer auch der neuen, der postbürokratischen Welt sein kann.

Dirk Baecker lehrt Unternehmenskultur an der privaten Universität Witten/Herdecke