Zentimeterweise Boden gutmachen

An der Sprengschule Dresden werden bosnische Flüchtlinge für die Räumung von Minen ausgebildet. Sie kehren zurück mit der Aussicht auf eine gutbezahlte, aber gefährliche Arbeit, die noch viele Jahre in Anspruch nehmen wird  ■ Von Thomas Schmid

Eine Stunde sitzt Salih Jašarević jetzt hinter seinem Bier, und noch immer ist das Glas nicht leer. Dabei ist es nur ein kleines Glas. In drei Tagen wird Jašarević in seine Heimat zurückfahren. Täglich nimmt er nun ein bißchen Abschied von Deutschland. Fünf Jahre hat er hier gelebt, im sächsischen Kamenz, einer Kleinstadt. Nein, schlecht habe man ihn nicht behandelt, sagt der 32jährige, dessen Haar schon vollständig ergraut ist. Aber täglich ein Eßpaket und monatlich 80 Mark Taschengeld dazu, das gehe schon an die Würde.

Er hätte gern gearbeitet, aber er durfte nicht. So ist er dem Staat zur Last gefallen, wo er doch gewohnt war, seine fünfköpfige Familie selbst durchzubringen. Nächste Woche wird Jašarević zu den hunderttausend Bosniern gehören, die, um mit Dietmar Schlee, dem Beauftragten der Bundesregierung für die Flüchtlingsrückkehr, zu sprechen, „aus freien Stücken“ abgereist sind. Aber anders als die meisten von ihnen wird er in Bosnien eine gutbezahlte Arbeit haben. Jašarević wird ein Zertifikat besitzen, das ihn als „Munitionsräumfacharbeiter“ ausweist. Morgen hat er Examen.

Der Krieg in Bosnien ist längst vorbei, doch die Waffen schweigen nicht. Täglich explodieren Blindgänger und Minen. An die hundert Unglücksfälle werden monatlich registriert, in den meisten Fällen gibt es Tote. Zwei bis drei Millionen Minen liegen im ganzen Land verstreut. Nur etwa ein Drittel von ihnen ist wenigstens grob geortet. Fruchtbares Ackerland liegt brach, weil jeder Schritt tödlich sein kann; Häuser werden nicht instand gesetzt, weil Sprengfallen lauern.

Salih Jašarević wird also Minen räumen. „Es ist nicht mein Traumjob“, sagt der frühere Lastwagenchauffeur, „aber mein Visum läuft Ende März aus, und bald werden Tausende weiterer Bosnier zurückkommen, freiwillig oder abgeschoben. Und alle werden Arbeit suchen.“ Wer freiwillig geht, darf wenigstens besuchsweise nach Deutschland zurück. Macht ihm die gefährliche Arbeit keine Angst? Immerhin hat er Frau und drei Kinder. „Mehr Angst als vor den Minen“, antwortet Jašarević, „habe ich vor dem Hunger.“

„Das Räumen von Blindgängern und Minen“, behauptet Dietmar Höhne, „ist ein Beruf wie andere auch. Man muß viel lernen. Man muß wissen, was man anfassen darf und wie man es anfassen muß. Ein Restrisiko bleibt immer, aber das gibt es auch auf der Autobahn.“ Die allermeisten Unfälle seien der Mißachtung von Sicherheitsbestimmungen geschuldet.“ Höhne ist Dozent für Kampfmittelbeseitigung an der Sprengschule Dresden. Der frühere Oberstleutnant der Nationalen Volksarmee der DDR, Absolvent der sowjetischen Militärakademie zu Moskau, hat in Angola und Sarajevo Tausende Minen und Blindgänger entschärft. Sein rechter Zeigefinger ist verkrüppelt – „nicht von einer Mine, sondern wegen eines Motorradunfalls“, wie er sich beeilt klarzustellen.

Höhne macht eine gespenstische Rechnung auf: 110 Millionen Minen liegen weltweit verstreut, etwa hunderttausend werden jährlich entschärft. Wenn dieses Tempo beibehalten wird, dauert es also 1.100 Jahre, bis der Globus clean ist – vorausgesetzt, es werden keine neuen Minen gelegt. „Auf jede Mine aber, die entschärft wird“, weiß Höhne, „kommen 25, die neu gelegt werden.“ Da hat es selbst Sisyphus leichter gehabt. Sein Stein fiel nur bis an den Ursprungsort zurück.

Die fünf Bosnier, unter ihnen eine Frau, die bei Höhne in die Schule gehen, sind die Vorhut von 200 Kriegsflüchtlingen, die die Sprengschule Dresden zu Munitionsräumarbeitern ausbilden will. Träger des von der Europäischen Union finanzierten Projekts ist das sächsische Innenministerium. Die Bosnier absolvieren einen zweiwöchigen Kurs, den die Sprengschule sonst vor allem gewerblichen Betrieben anbietet. Vornehmlich Baufirmen sind mit dem Problem von Blindgängern konfrontiert. Jährlich werden in Deutschland weit über tausend liegengebliebene Bomben und Granaten aus dem Zweiten Weltkrieg entdeckt.

Neben Kampfmittelbeseitigung bietet die Sprengschule Dresden Kurse über Sprengtechnik, Beförderung explosiver Stoffe und Sprengarbeiten unter Tage an, aber auch Kurse in Pyrotechnik. „Jüngst hielt ein Gastdozent aus Hollywood einen Vortrag“, sagt Geschäftsführer Reithe, „die Schüler kamen von Firmen, die ,special effects‘ für Filmteams anbieten.“ Auch der Bühnentechniker, der in der Dresdener Semperoper ein Feuerwerk zündet oder die Nebelmaschine anwirft, ging hier zur Schule. „Man muß ja wissen, wie man das Zeug bedient, damit es nicht ins Publikum losgeht.“

Seit 1969 leitet Reithe die Sprengschule, die in einem Taleinschnitt am Rande Dresdens liegt. Zu DDR-Zeiten wurden hier für über 400 Betriebe Spezialisten, vor allem im Wismut- und Kalibergbau, ausgebildet. Nach der Wende bildete man Fachkräfte für die Sanierung verlassener sowjetischer Truppenübungsplätze aus und bot einen „Sonderlehrgang Munition des ehemaligen Warschauer Paktes“ an. 1993 erhielt die zu einer GmbH mutierte Schule, eine hundertprozentige Tochter der französischen Société Générale des Entreprises, die staatliche Anerkennung für Lehrgänge zur Kampfmittelbeseitigung.

Auf dem Lehrerpult in seinem Unterrichtszimmer hat Höhne Granaten und Bomben aufgestellt, nach Kaliber geordnet, in Reih und Glied, Spitze nach oben, eine wahrlich phallische Phalanx. Daneben liegen Minen: Die tellergroßen Panzerminen mit 6,5 Kilogramm Sprengstoff dienen vor allem der Sperrung von Straßen und Brücken, die kleinen Minen mit 45 Gramm Sprengstoff werden nur wenige Zentimeter tief in die Erde eingegraben. Wer darauf tritt, hat gute Überlebenschancen, wenn ärztliche Hilfe in der Nähe ist. Doch der Fuß muß fast immer amputiert werden, oft das halbe Bein. Die Toten vergräbt man, die Krüppel aber sind lebende Mahnmale. Es ist eine besondere Art der Abschreckungsstrategie.

Dann gibt es die Ampelmine, aus der 624 Stahlbolzen spritzen, wenn sie explodiert. Es gibt Minen mit Zugzündern. Sie detonieren zum Beispiel, wenn jemand über einen kaum sichtbaren Stolperdraht strauchelt. Es gibt Minen mit Entlastungszündern, die losgehen, wenn der Gegenstand, unter dem sie verborgen liegen, beiseite geschoben wird. Am allerfiesesten aber sind die Sprengfallen. Das sind getarnte Minen: Sie können in Cola-Dosen oder Puppen versteckt sein, in allen Gegenständen des täglichen Gebrauchs. Die tödliche Phantasie kennt da keine Grenzen. Vor allem in verlassenen Häusern und Autowracks – also an den Orten, wo Kinder spielen – ist Vorsicht geboten.

Vom Mai bis Oktober vergangenen Jahres hat Höhne vor Ort gearbeitet, in Dobrinja, dem zerschossenen Viertel am Rand des Flughafens von Sarajevo. In diesen sechs Monaten hat er mit seiner zehn Mann starken Truppe gerade 75.000 Quadratmeter geschafft, das waren 52 Häuser mit 208 Wohnungen und Außenflächen. Ein Mann allein braucht für die Räumung eines Hauses ungefähr einen Monat. 480 Blindgänger wurden geborgen. Etwa 70 Minen wurden entschärft. Die Schuttberge zerschossener Mauern wurden Stein für Stein weggetragen, „und immer mußt du aufpassen, daß nichts ins Rutschen kommt“, sagt Höhne, „es ist wie beim Mikado-Spiel“.

Sind die Häuser einigermaßen sicher, steht die Herkulesarbeit noch bevor: die Entminung von Wiesen und Feldern. Früher, als die Minen noch aus Metall waren, rückte man ihnen mit dem Metalldetektor zu Leibe. Doch heute sind die meisten Minen aus Plastik. Es bleibt dann nichts übrig, als den Boden mit der Minenräumnadel zu sondieren. Diese wird im Abstand von fünf Zentimetern in den Boden gestoßen. Stößt sie auf Widerstand, wird die Erde vorsichtig abgetragen, um zu sehen, ob eine Mine zum Vorschein kommt. Auf einem 50 Meter breiten Streifen wird also tausendmal in die Erde gestochen, dann heißt es fünf Zentimeter vorrücken und wieder tausendmal in die Erde stechen und so fort. All dies mit Helm, Splitterschutzweste und auf Knien. Nach fünfzehn Minuten läßt die Konzentration nach, der Munitionsräumarbeiter wird ausgewechselt. Die Entminung Bosniens wird noch Jahrzehnte dauern, und die verseuchten Wälder, vermutet Höhne, werden wohl nie entmint werden. Da heißt es dann einfach: Zutritt auf eigene Gefahr.

Saliha Jašarević weiß, was auf ihn zukommt. Das ist für ihn um so wichtiger, als er nicht weiß, ob er sich in dem Land, das er vor knapp sechs Jahren verlassen hat, je wieder heimisch fühlen wird. In Zivinice bei Tuzla wird er bei einer Filiale der Dresdener Sprengschule noch mal vier Wochen ausgebildet, dann beginnt die Arbeit. Eine Firma, mit der die Schule zusammenarbeitet, gibt ihm anderthalb Jahre Beschäftigungsgarantie und etwa tausend Mark pro Monat, ein Spitzenlohn für bosnische Verhältnisse.

Ja, er freut sich, wieder seine Heimat zu sehen. Doch nach Kozara, in sein Dorf, das heute in der bosnischen Serbenrepublik liegt, will der Bosniake Jašarević – „Ihr nennt uns Muslime, aber ich bin Atheist“ – nicht mehr zurück. Zwei Monate hat man ihn dort in der Ziegelfabrik Keraterm festgehalten, einem der schlimmsten Gefangenenlager von Karadžić' Truppen. Täglich wurde er von seinen serbischen Bewachern verprügelt. Den Ort des Schreckens verließ er schließlich unter Geleitschutz der UNO, auf 45 Kilo abgemagert, mit gebrochenen Rippen und zerschlagenem Oberkiefer. „Ich kenne sie alle, mit einigen von ihnen bin ich zur Schule gegangen“, sagt er, „ich will sie nicht wiedersehen.“ Dann stützt er das Kinn auf seine Fäuste, fixiert irgendeinen Punkt an der Wand und murmelt: „Weshalb dieser verdammte Krieg ausgebrochen ist, weiß ich bis heute nicht.“