Volk ohne Raum für Sex

■ Auf der Suche nach dem Alltag im "Hotel Bulgaria". Die Schriftstellerin Angelika Schrobsdorff entdeckt in Bulgarien die leise Sehnsucht nach der Monarchie und die neue Herrschaft der Mafia. Selbst sein Auto kann man

taz: Wann haben Sie zuletzt eine Nachricht über Bulgarien im Fernsehen gesehen?

Gott, das ist Ewigkeiten her, obwohl ich in Jerusalem Kabelfernsehen habe. Ich glaube, es war, als nach den Protesten Anfang 97 die zuvor gewählte sozialistische Regierung fiel.

Bulgarien scheint also eher ein Land mit geringer Einschaltquote zu sein.

Kann man so sagen. Nur kurze Zeit war das etwas anders. Natürlich wurde gezeigt, wie das Parlament von den Demonstranten gestürmt wurde. Ich habe mir das hinterher erzählen lassen, denn ich war zu dem Zeitpunkt ja gerade in Bulgarien. Aber das ist so: In dem Moment, wo'n bißchen Blut fließt, Köppe eingeschlagen werden, ist was drin in den Nachrichten, sonst nicht.

„Grandhotel Bulgaria“, Ihr jüngstes Buch, schildert die Situation im Krisenwinter 96/97, als es in Sofia erstmals in der Geschichte zu Massendemonstrationen kam. Zuvor mußte das Land allerdings erst am Rand einer Hungerkatastrophe stehen.

Der Spruch, der die Runde machte, war: „Wer diesen Winter überlebt, wird es bereuen.“ Man braucht eine Weile, um sich das klarzumachen, weil das Elend in Bulgarien nicht mit Geschrei auf sich aufmerksam macht. Es hat etwas Rustikales. Man improvisiert, man muß improvisieren, das erinnert heute noch stark an die Situation in Israel.

Da ich nicht politisch versiert bin, habe ich versucht, den bulgarischen Alltag aus der Sicht der einfachen Leute zu zeigen: ein Besuch im Altersheim, eine Silvesternacht, Tischgespräche. Die Frau, die im Buch Irina heißt, sagte mir zum Beispiel, daß der Weizen nur noch für zwei Wochen reicht. Ich dachte, das wird schon eine große Übertreibung sein, aber es war tatsächlich so. Die Mafia hatte kurzerhand 200.000 Tonnen Getreide, den kläglichen Rest, ins Ausland verschoben.

Im Westen hätte das für einen Aufschrei der Empörung gesorgt. Warum sind Bulgaren so duldsam?

Das ist eben die Frage. Sie sind wirklich ungeheuer duldsam, ein ganz und gar nicht aggressives Volk. Wenn ich an die Gesichter der Polizisten denke, als es losging mit den Demonstrationen: absolut hilflos. Erst im allerletzten Moment haben sie die Schlagstöcke benutzt und dann allerdings sehr zugeschlagen. Vielleicht hat es einfach damit zu tun, daß sie in der Geschichte selten etwas anderes gekannt haben. Wir waren 500 Jahre unter türkischer Herrschaft – das ist in Bulgarien immer der Ausgangspunkt der Erklärungen, wenn man fragt: Warum seid ihr eigentlich so dämlich und unselbständig? Ich mache mich in meinem Buch ein wenig darüber lustig, aber es ist ja was Wahres dran: Nach den 500 Jahren Türkenjoch kam eine kurze Periode, in der die Bulgaren einen eigenen Staat hatten. Dann kam die deutsche Besatzung, mit der sie sich zwar gut verstanden haben, aber die Deutschen haben sie auch links und rechts ausgeplündert. Dann kam der Kommunismus. Ich versuche immer, den Kommunismus noch etwas zu verteidigen, weil... wie soll ich mich ausdrücken... ich glaube, daß diese Idee immer noch die einzig richtige ist für unsere Welt. Aber das erzählen Sie mal jemandem in einem Land wie Bulgarien!

„Der Kommunismus“ soll gleichermaßen alles erklären wie zuvor das halbe Jahrtausend unter den Türken.

Es war ein russischer Zar, der Bulgarien damals befreit hat, und er war deswegen ungeheuer beliebt. Für sie waren die Russen eben die Befreier, und die Kommunisten waren ja auch Russen, nur ein wenig anders. Ob es nun aber daran liegt, daß die Bulgaren das linientreuste Land waren und mehr mit sich machen ließen als etwa die Jugoslawen, kann ich beim besten Willen nicht sagen.

Der bulgarische Soziologe Ivan Kristew meint, sein Land leide unter dem Feindbild eines metaphysischen Kommunismus: Politik ist immer noch eine Macht von oben, quasi aus dem Jenseits.

Da weiß der Soziologe mehr als ich. Ich spreche mehr aus dem Bauch und aus der Anschauung heraus. Aber es klingt sehr poetisch. Wie vieles aus Bulgarien.

Als letzte Erklärung für den desolaten Zustand des Landes ist nach dem Ende des Kommunismus die Mafia geblieben.

Die Mafia... Das Kapitel ist sehr schwer zu verstehen, und ich habe es anfangs auch nicht verstanden. Aber es scheint tatsächlich so zu sein, daß eine ganze Reihe von Funktionären direkt aus ihrer hohen Stellung im kommunistischen Apparat in die Mafia gewechselt sind. Nehmen Sie die erwähnte Verschiebung von Weizen an den Westen: Es sind Kommunisten, die das gemacht haben. Das konnten mir meine Freunde anhand von Namen und Beispielen glaubhaft beweisen. Dann die Geschichte mit der sogenannten Multi Group, die mein geliebtes Hotel Bulgaria zur Modernisierung übernommen hat: ungeheure, undurchsichtige Geschäfte. Es war auch in den Zeitungen, aber was nützt es? Die Korruption im und nach dem Kommunismus hat phantastische Ausmaße.

So daß man heute sein eigenes Auto direkt bei der Mafia versichern kann.

Ja, das ist fabelhaft. Wenn man das nicht tut, ist das Autochen weg. Überall an den Wagen kleben Streifen mit dem Emblem dieser Organisation. Man hat eine Nummer, bei der man anruft, dann sagen die: Geld her. So funktioniert das. Dasselbe mit Läden, Restaurants, die ausgeplündert oder zertrümmert werden, wenn man nicht zahlt. Wenn man dann zahlt, setzen sie es eben wieder instand oder bringen die Möbel zurück.

Die Frage ist: Wer ist die Mafia, wenn nicht die Bulgaren selber? Kommunisten? Emporkömmlinge?

Tja. Neureiche Leute, die mitmachen. Jeder braucht doch ein paar Dollars. Die Bulgaren, auch meine Nichte, die zwangsläufig in dem System groß werden mußte, behaupten, man erkennt sie sofort: am feisten Nacken, am aufgeschwemmten Gesicht, am goldenen Ring oder am Armband, was weiß ich? Es hat mich sehr interessiert, aber ich bin nie mit einem Mafioso in Verbindung gekommen. Ich habe Ausschau gehalten, hatte aber das Auge dafür nicht.

Ab einem bestimmten Punkt verschwimmen in Bulgarien Freund und Feind ins Unkenntliche.

Richtig daran ist: Auch Leute, die Kontakte mit der Mafia weit von sich weisen, wie etwa mein Freund Bogdan aus dem Buch, betreiben irgendeine Art von Schwarzhandel. Es geht ihm beileibe nicht schlecht, er hat eine Stereoanlage und einen weit größeren Fernseher als ich zu Hause. Der Freund, mit dem er ein Putzmittelgeschäft betreibt, baut ein dreistöckiges Haus für seine Kinder, ich habe es selbst gesehen. Woher kommt das? Geschäfte... Wem es ungeheuer schlecht geht, sind die Rentner. Allerdings ist es in Bulgarien nach wie vor eine Selbstverständlichkeit, daß die Kinder für ihre Eltern sorgen. Abgeschoben, wie im Westen, wird niemand. Schon aus Platzmangel schlafen die Söhne oder Töchter mit ihrem dahinsiechenden Elternteil in einem Ehebett. Natürlich hat das auch etwas Furchtbares.

Deshalb kommen Sie zu dem Schluß, Bulgarien sei ein Land ohne Sex.

Es ist ein Thema, über das man nicht spricht, jedenfalls nicht ein Mann mit einer Frau. Deshalb war Bogdan, direkt darauf angesprochen, auch so verlegen. Er meinte nur: Wir Bulgaren sind sehr romantisch, uns fehlt einfach der Raum in der Wohnung, die Atmosphäre zum Sex. Wir sind müde, haben kein Geld, sind hoffnungslos. Da ist wohl vieles verschüttet zur Zeit.

Sie beschreiben die Massenbewegung Anfang 97 als Revolte eines Mittelstands, den es so nie geben durfte.

Absolut. Es sind Leute, die nach der Wende ein bißchen etwas zurückbekommen haben und dann mehr wollten. Das Bürgertum hat ja unter dem Kommunismus am meisten gelitten. Die Bauern und Arbeiter, denen es während der zaristischen Zeit ungeheuer dreckig ging, hatten es im Kommunismus sehr viel besser.

Meine Bauern in Buchowo etwa, unserem Exilort auf der Flucht vor den Nazis: Ohne uns waren das neun Personen in zwei kleinen Zimmerchen, die zusammengewohnt haben. Was hatten sie? Bißchen Mais, paar Schafe, weiße Bohnen haben sie gegessen von morgens bis abends. Und welche Gastfreundschaft! Sie haben nicht gefragt, woher wir kommen. Später hatte zumindest jeder ein Häuschen, ein Salonchen, eine bunte Decke, ein Radio, Wasser in der Wohnung und Elektrizität. Die Kinder konnten Universitäten besuchen. Die Frauen konnten ihre Kinder im Krankenhaus bekommen und nicht auf dem Feld. In den Westen reisen wollten diese Bauern allerdings nicht gerade.

Die Einigungssehnsucht im auseinanderstrebenden Bulgarien scheint nach rückwärts zu gehen: Viele wollen ihren König wiederhaben.

Das habe ich vorhin vergessen: Es gab einen Bericht im Fernsehen über König Simeon. Die Bulgaren trauen ihm zu, die verfahrene Situation zu meistern, einfach weil er gut aussieht, Kontakte im Westen hat und so das nötige Geld hereinbringen könnte – als Retter der Nation. Viele meiner Freundinnen von früher sind Monarchistinnen. Na, der wird sich was, der Simeon. Die Bulgaren sind ein kindliches Volk – sehr naiv in ihren Vorstellungen, ungeheuer naiv. Das haben sie mit den Palästinensern gemeinsam.

Sprechen Sie deshalb in Ihren Büchern von den „Stiefkindern der Geschichte“?

Sind sie das etwa nicht, die Bulgaren wie die Palästinenser? Ich finde es furchtbar, was mit diesen Völkern gemacht wird. Ich weiß zwar, daß alles nichts hilft, daß es keine Gerechtigkeit gibt, trotzdem muß ich es tun, um nicht selber zu explodieren oder zu resignieren. Renne ich eben gegen eine Mauer an. Bulgarien und Palästina verbindet der Mangel: keine Technik, kein Geld, kein Garnischt. Trotzdem haben sie eine gewisse Ursprünglichkeit bewahrt. Das ist das einzige, was ich noch suche. Die Menschen im Westen sind gelangweilt, und sie langweilen mich auch sehr.

Die schlichte Sehnsucht des Komplizierten nach dem Unterkomplexen?

Ich halte den Westen gar nicht für so komplex. Wissen Sie, die Völker, die wir naiv nennen, sind in Wirklichkeit einfach noch nicht so verbogen. Ich liebe die Bulgaren, es sind wunderbare Menschen. Im übrigen verbindet mich keine besondere Liebe mit den Palästinensern. Es ist nur eine Frage der Gerechtigkeit und des Gewissens.

Sie schreiben an einem neuen Buch über Jerusalem?

Ich habe das Buch angefangen, aber wieder beiseite gelegt. Der Fall ist zu hoffnungslos. Bulgarien – da steckt noch Zukunft drin. Es ist bloß eine Frage von Zeit, Geld, Ökonomie. In Israel bzw. Palästina ist alles sehr viel komplexer. Religion, Nationalismus, Fanatismus, alles ineinander verfilzt. Die Weichen sind lange vor Netanjahu gestellt worden. Die Verhältnisse sind auf ewig zementiert und zugleich wie Treibsand. Drücken wir es so aus: Es fehlt mir zur Zeit noch an der richtigen Form. Interview: Thomas Groß