Im Kapitalismus überwintern

Der Parteitag der SPD in Nordrhein-Westfalen wird das labile Gleichgewicht der Partei nicht stören. Aber die Unruhe über die ungeklärte Nachfolge des Landesvaters Johannes Rau und den Kurs der SPD wird größer  ■ Von Walter Jakobs

Das Vertrauen von Peter Tillmann in den Genossen Wolfgang Clement hält sich in Grenzen. Der Stahlkocher bei Krupp-Hoesch in Dortmund erwartet von einem sozialdemokratischen Wirtschaftsminister, daß dieser erst die Betriebsräte und dann die Chefs aufsucht. „Er muß wissen, wo die Probleme der Arbeitnehmer liegen.“ An diese Rangfolge hält sich Clement gewiß nicht, doch er weiß genau, wo die Probleme der Stahlwerker in Dortmund liegen. Sie haben Angst, daß aus den versprochenen Ersatzarbeitsplätzen nichts wird. Clement selbst hat die Vereinbarung mit den Stahlbossen im Rahmen der Fusion von Thyssen und Krupp unterzeichnet. Als Ersatz für die rund 4.500 in Dortmund wegfallenden Arbeitsplätze sollen bis zum Jahr 2000 mindestens 1.900 neue Jobs entstehen. „Bis zum März sollte schon was da sein“, ruft der Stahlkocher Peter Tillmann dem Wirtschaftsminister erregt zu, „noch ist keine einzige Halle gebaut.“ Hier in Dortmund glaubt man den Sozialdemokraten nicht mehr aufs Wort.

Herbert Kastner, Gesamtbetriebsratsvorsitzender bei Krupp, kennt die schlechte Stimmung. „Wenn nicht ganz schnell Ersatzarbeitsplätze in Dortmund entstehen“, sagt er, „dann wird es hier ein zweites Rheinhausen geben.“ Die Belegschaften seien der „unfähigen Regierung Kohl“ zwar überdrüssig und „bereit für einen Wechsel zu kämpfen“. Aber die Sozialdemokraten müßten auch etwas tun. „Bitte, enttäuscht uns nicht“, sagt er an Wolfgang Clement und Franz Müntefering, den SPD-Bundesgeschäftsführer, gerichtet.

Kurz vorher hatte der SPD- Bundestagsabgeordnete Wolfgang Weiermann den sozialdemokratischen Wirtschaftsminister noch freundlich begrüßt. Clement zeige „Konturen“, und so werde deutlich, daß die SPD „Politik für Arbeitnehmer“ macht. Aber selbst im Herzen der traditionellen SPD in Nordrhein-Westfalen wird der Beifall spärlicher und die Zweifel werden größer. Die Partei, sagt der Abgeordnete Weiermann, ist in einer Orientierungskrise. Schwer wiegen die Erfahrungen von Rheinhausen. Selbst zehn Jahre nach der Schließung sind die von Krupp versprochenen neuen Arbeitsplätzen so gut wie nicht zu sehen.

Wenn morgen der SPD-Landesparteitag in Dortmund beginnt, dann werden Tausende von Bergleuten ihre Zweifel am sozialdemokratischen Kurs freien Lauf lassen. Eine Demonstration, die den Genossen, die mit Wirtschaftsminister Wolfgang Clement wenig am Hut haben, signalisieren soll: Rüttelt nicht an Garzweiler, wir brauchen die Arbeitsplätze. Daß Clement von den Parteitagsdelegierten für seinen harten Kurs abgestraft werden könnte, ist nicht zu erwarten. Die rot-grüne Koalition hält – und Clement hat dabei die Interessen der traditionellen Sozialdemokraten gewahrt. Besser könnte es für Clement nicht laufen. Die Zerreißprobe bleibt der SPD wieder einmal erspart – vorerst.

Johannes Rau, der Ministerpräsident, kandidiert erneut als Landesvorsitzender. Auch das trägt zum innerparteilichen Frieden bei. Wie lange aber der Schwebezustand über die Nachfolge des Landesvaters noch währt, steht dahin. Selbst in der engen Parteiführung herrscht keine Klarheit: Wann wird Rau sein Amt, wie verabredet, an Clement übergeben? Noch Anfang letzten Jahres ging Clement selbst davon aus, schon beim morgigen Parteitag zum Landesvorsitzenden gekürt zu werden. Jetzt steht ein Modell im Raum, das die Macht, zumindest auf Zeit, auf mehrere Schultern verteilen soll. Denkbar ist, daß Rau das Amt des Ministerpräsidenten freimacht, aber den Parteivorsitz beibehält. Bisher galt der Parteipatriarch zwar immer als Verfechter der Doppelherrschaft, doch in dieser Woche signalisierte er erstmals öffentlich seinen Rückzug vom Doppelamt. Wenn man davon abweiche, müsse man dafür „gute Gründe“ haben.

Die ließen sich nach der Niedersachsenwahl gewiß finden. Zumal Clement in Teilen der SPD – anders als Rau – auf erbitterten Widerstand stößt. Etwa bei den Jusos, die ihm eine Politik „auf unterstem Stammtisch-Niveau“ vorwerfen. Viel Einfluß haben die Jusos zwar nicht – aber ihre Befürchtungen teilen viele. Jüngst erntete Benjamin Mikfeld, Juso-Chef in Westfalen und Mitglied im SPD-Bundesvorstand, für seine Kritik am Kurs von Clement und Schröder begeisterten Applaus. Deren Politik ziele darauf ab, „im Kapitalismus zu überwintern, statt ihn zu zivilisieren oder zu überwinden“.