■ Hunderttausende werden morgen zur Messe strömen, die Papst Johannes Paul II. auf dem Platz der Revolution in Havanna liest. Weshalb so viele Kubaner in die Kirche gehen, ist eine andere Geschichte Von Thomas Schmid
: Das umsichtige Orakel des Orula

Der afrokubanische Kult Santeria hat in Kuba weit mehr Anhänger als die katholische Kirche, und wenn der Papst die Barmherzige Jungfrau von Cobre krönt, dann setzt er auch der schönen Ochun, der Göttin der Liebe, die alle Männer verführt, die Krone auf. Ob der Papst wohl weiß, was er tut?

Camilo war ein pfiffiger Junge. Und mutig dazu. Mit 14 Jahren schon wußte er, wie man einen Molotowcocktail mixt und wie man ganze Straßenzüge verdunkelt. Auf Omnibusse, die vor roten Ampeln hielten, sprühte er mit schwarzer Farbe „Abajo Batista“ oder mit roter „Viva Fidel“, und die fuhren dann mit der brisanten Botschaft quer durch Havanna. Das war nicht ungefährlich. Denn die Pistolen der Polizei saßen damals locker, und in den Gefängnissen von Präsident Fulgencio Batista wurde gnadenlos gefoltert. Später ging Camilo in die Berge zur Guerilla Fidel Castros. Seine Einheit gehörte zu den ersten, die am 2. Januar 1959 in die kubanische Hauptstadt einmarschierten. Der Empfang war triumphal, die ganze Stadt feierte, der verhaßte Diktator hatte sich noch in der Silvesternacht aus dem Staub gemacht.

Das alles ist nun 39 Jahre her. Heute lebt Camilo in einer Bruchbude in der Altstadt von Havanna. Monatlich zahlt ihm der Staat eine Pension von 225 Pesos, umgerechnet 10 Dollar, mehr als üblich, denn als ex combatiente, ehemaliger Kämpfer, hat er Anrecht auf eine Sonderzulage. Den Glauben an die Revolution jedoch, die ihn mit einem halben Dutzend Medaillen auszeichnete, hat der Frührentner längst durch einen anderen ersetzt. Nach dem zweiten Herzinfarkt 1992 gab ihm der Arzt gerade noch sechs Monate. Und Camilo war doch erst fünfzig Jahre alt. In seiner Verzweiflung ging er zu einem Babalao, einem Priester der Santeria. „Sorge dich nicht um den Tod, gab mir Orula damals mit auf den Weg“, erinnert er sich, „du hast noch viel Zeit.“ Orula ist der Gott der Weissagung, der sich den Babalaos mitteilt, und aus den sechs Monaten sind nun schon fast sechs Jahre geworden.

Oben auf dem verstaubten Schrank in Camilos Wohnküche steht ein Hahn aus Zink. Er trägt vier Glöckchen. „Es ist Ozun, er muß immer oben sein“, sagt der frühere Guerillero, „wenn er herunterfällt, bedeutet das den Tod. Wenn es zu einem Erdbeben kommt, klingeln die Glöckchen, und vielleicht kann ich seinen Sturz dann noch aufhalten.“ Er holt aus einem Schrank zwei angemalte Steine hervor, die er flüchtig küßt. Es sind Ogun, der Gott des Eisens, und Ochosi, der Gott der Jagd, beide Brüder Ozuns. Der vierte im Bunde ist Eleggua. Er ist der Wächter des Hauses. Er besteht aus Zement, seine Augen und sein Mund sind drei Muscheln, auf dem Kopf trägt er eine rote Feder. Er hockt hinter dem Stuhlbein und schaut immer zur Tür. Yemaya hingegen, die Göttin des Meeres, hat Camilo in einem Topf versteckt. „Sie erträgt die Nacktheit nicht“, erklärt er, „und ich muß doch immer an ihr vorbei, wenn ich mich wasche.“ Sie ist die Mutter allen Lebens, „und schließlich ist inzwischen auch wissenschaftlich erwiesen, daß alles Leben aus dem Meer kommt.“ Camilo redet mit seinen Göttern, besänftigt sie, bittet sie um Rat und bringt ihnen Opfergaben dar, vornehmlich Zigarren und Zuckerrohrfusel.

Die Götter im Hause Camilos kamen einst aus Afrika. Anders als in Mexiko oder Mittelamerika rotteten die spanischen Kolonialherren auf Kuba die Indianer radikal aus und importierten für die Arbeit auf den Zuckerrohrplantagen schwarze Sklaven. Die Ausübung ihrer Religion war ihnen oft verboten, aber niemand konnte sie daran hindern, hinter den Gipsfiguren von Heiligen in der Kirche ihre eigenen Götter zu sehen. In der Wallfahrtskirche von Regla, einem Außenviertel von Havanna, sind über ein Dutzend katholischer Heiliger an den Wänden aufgepflanzt. Die Menschen stehen davor und reden mit ihnen. Hinter Franz von Assisi, der die Tauben füttert, erkennen sie Orula, vor dem Bild des heiligen Josef reden sie mit Osain, dem Gott der Heilkräuter; die Jungfrau von Regla, Schutzpatronin des Hafens von Havanna, ist für sie Yemaya, und die heilige Barbara macht sogar eine Geschlechtsumwandlung durch: Sie wird zu Chango, dem Gott des Donners und des Krieges. Und wenn der Papst in diesen Tagen die Barmherzige Jungfrau von Cobre, die Nationalheilige Kubas, in einem feierlichen Akt krönt, so setzt er auch Ochun eine Krone auf. Ob er weiß, was er da tut? Während die Jungfrau von Cobre für Reinheit und Keuschheit steht, ist Ochun die Göttin des Flusses und der Liebe, der Schönheit und des Reichtums. Sie ist fröhlich, hat noch nie geweint, sie ist aber auch kokett und reißt Zoten. „Für uns ist sie eben ,la puta santa‘, die heilige Hure“, sagt Camilo lachend, „sie treibt's mit jedem.“ Um Männer und Götter anzulocken, schmiert sie sich mit Honig ein, außerdem badet sie gern nackt in den Flüssen. Während alle andern Götter der Santeria schwarz sind, ist Ochun Mulattin. Niemand kann ihr widerstehen, selbst Chango konnte es nicht, von dem noch die Rede sein wird, der ihr zunächst hochnäsig und cool begegnete („ich habe zur Zeit genug Frauen“), ihr dann aber doch verfiel und sie schließlich heiratete.

Die Götter der Santeria sind bei weitem nicht so entrückte Wesen wie die katholischen Heiligen. Viel menschlicher als jene, sind sie mit Tugenden und Lastern ausgestattet, können eifersüchtig und leidenschaftlich sein, schmieden Intrigen, hassen und lieben sich, zürnen und sind beleidigt und verschmähen weder ein köstliches Mahl noch einen guten Schnaps. Der katholischen Kirche, die zwischen Glaube und Aberglaube schon immer klar zu unterscheiden wußte, ist das Pantheon der Santeria deshalb äußerst suspekt. Kardinal Jaime Ortega, Erzbischof von Havanna, spricht von einer „Pseudoreligion“. Und der Papst besucht in Kuba zwar die kleine jüdische Gemeinde, ein Treffen mit einem Babalao, einem Priester der Santeria, die heute auf Kuba eine größere Gefolgschaft hat als der „orthodoxe“ Katholizismus, steht jedoch nicht auf dem Programm – obwohl die meisten Anhänger der Santeria in die Kirche gehen. Doch beichten sie keinem Priester ihre Sünden. Wenn sie sich danebenbenommen haben, regeln sie das mit den Göttern direkt. Ansonsten kommunizieren sie mit den Geistern ihrer verstorbenen Ahnen, versuchen die guten für ihre Sache zu gewinnen und die schlechten zu verscheuchen. Den Papst sehen sie als einen heiligen Mann an, der Frieden bringt. Ansonsten finden sie, Santeria und Katholizismus schlössen sich nicht aus.

Nach der gescheiterten Invasion von Exilkubanern in der Schweinebucht (1961) fuhr das noch junge Revolutionsregime einen harten antireligiösen Kurs. Die Santeria war davon zweifellos weniger betroffen als die katholische Kirche. Sie war keine Institution, hatte keine Kirchen und Klöster, unterhielt keine eigenen Schulen, stellte das Monopol des Staates auf dem Erziehungssektor nicht in Frage und hat sich in öffentliche Angelegenheiten nie eingemischt. Kardinal Ortega hat jüngst von einer Propagandakampagne der Regierung gesprochen, „die tendenziell die Santeria als offizielle Religion des Landes darstellt“. Das ist gewiß übertrieben. Aber zweifellos fällt dem Regime der Umgang mit der Santeria, die etwas spezifisch Kubanisches ist und sich auch touristisch vermarkten läßt, leichter als der mit der Kirche. Kein Wunder, daß Fidel Castro, der nun endlich dem Papst den Besuch auf seiner Insel erlaubt hat, den König der Ife, das religiöse Oberhaupt der Yoruba Nigerias, wo die Santeria ihren Ursprung hat, schon 1985 empfing. Viele Anhänger der Santeria halten den Staatschef für einen Santero. Wie hätte er sonst 32 Attentate überleben sollen? Er sei in Nigeria „initiiert“ worden, munkelt man in Havanna. Camilo glaubt nicht daran. Aber daß Celia Sánchez, die 1980 verstorbene Kampfgefährtin und Geliebte des máximo lider, und dessen früherer Leibarzt Rene Vallejo der Santeria anhingen, steht für ihn außer Frage.

Jacinto ist Camilos Pate. Der Babalao lebt in Regla, einer Hochburg afrokubanischer Kulte. Barfüßig sitzt er in seiner ärmlichen Wohnung auf dem Boden. Auf dem Kopf trägt er den weißen Turban und um den Hals drei Ketten: die grün-gelbe von Orula, die weiße von Chango und die braune von Oya, der Göttin, die den Friedhof bewacht. Das Zimmer ist voll wunderlicher Gegenstände: Auf einem bunt angemalten Gefäß liegt ein Ziegenkopf, davor ein großer Rasierpinsel, eine Kokosnuß, zwei Schnapsflaschen, ein Glas Wasser und eine Mausefalle. Münzen liegen herum, Muscheln und jede Menge Fläschchen mit irgendwelchen Ingredienzien. Und überall Hals- und Armketten, Ringe, Steine, Kokosschalen, und in all dieser geordneten Unordnung verstecken sich Götter. Sie lugen vom Regal herab, stecken in geöffneten Kokosnüssen und Blumentöpfen oder haben es sich auf einem Schemel bequem gemacht. An der Wand hängt ein großes Gemälde von Oya, die von einem Dutzend Geister umgeben ist. Dem Gast wird ein Chequete gereicht, ein seltsames Gebräu aus geröstetem Mais, Bitterorange und Zuckerrohrsaft, das fünf Tage stehen muß, bevor es getrunken werden darf.

„Ich bin ein Botschafter Orulas“, eröffnet der Babalao das Gespräch, „und das hier ist unser Telefon.“ Er zeigt seinen Ekuele, eine Kette aus zwölf Teilen mit verschiedenen Farben und acht Muscheln. Jeden Morgen, nachdem er den Olodumare, den Gott, der alles, Himmel und Erde, Land, Flüsse und Meere, Menschen und Tiere erschaffen hat, begrüßt hat, wirft er den Ekuele, um zu erfahren, welchem Gott er den Tag zu widmen hat. „Heute morgen hat sich Orula für Rot- Weiß entschieden“ sagt Jacinto, „es sind die Farben von Chango. Deshalb erzähle ich dir nun die Geschichte von Chango: Er ist der Gott des Donners und des Kriegs, aber auch des Feuers und der Männlichkeit, und er trägt immer eine zweischneidige Axt. Chango, mußt du wissen, ist ein Frauenheld, Abenteurer, säuft maßlos und ist streitsüchtig. Von allen Göttern gleicht er uns Kubanern also am meisten. Vor allem aber ist er in ewigem Streit mit Ogun, dem Gott des Eisens, der sein älterer Bruder ist. Chango wuchs nicht bei der Mutter auf, sondern bei einer Halbschwester. Den Grund hierfür verriet ihm ein Dienstmädchen, als er erwachsen wurde: Seine Mutter hatte eine inzestuöse Beziehung zu Ogun, und sein Vater wollte also nicht, daß er, Chango, bei ihr aufwachse. Als er das erfuhr, wurde Chango wütend auf seinen Bruder und nahm ihm seine Frau weg, die Oya hieß. Sie ist die Göttin des Friedhofs. Er nahm sie sich zur Frau. Seither leben die beiden Brüder in ewigem Streit. Und seither hat Chango drei Frauen: Oba, Oya und Ochun.“

Der Babalao Jacinto ist also Camilos Pate. Das heißt, er hat ihn „initiiert“, zum Santero oder Babalocha gemacht. Die Initiation bleibt für viele Anhänger der Santeria, ein ferner Traum. Sie ist mit hohen finanziellen Ausgaben verbunden. Unter tausend Pesos – und das ist etwa ein halber Jahreslohn – ist da nichts zu machen. Das Ritual dauert sieben Tage und sieben Nächte, während derer der Kandidat das Haus nicht verlassen darf. In dieser Woche muß er sieben Göttern die Aufwartung machen, jedesmal in anderem Kostüm, weil jeder Gott seine Vorlieben hat, und jeder Gott will auch anders verköstigt werden. Chango etwa liebt Rotwein – und der ist in Kuba sündhaft teuer – und mag Äpfel. Ochun steht auf Krabben mit Spinat und trinkt Kamillentee. Eleggua verlangt ein Zicklein und Zuckerrohrschnaps. Während dieser sieben Tage muß der Kandidat zudem für das Essen von zehn Personen aufkommen: für sieben Babalochas, die beim Ritual verschiedene Aufgaben zu erfüllen haben, für den Koch all dieser Speisen, für den Mann, der die Kräuter zubereitet, und für sich selbst.

Nach dieser Woche muß der Eingeweihte sich alle Haare am ganzen Körper rasieren, er ist dann Iyawo und darf sich ein Jahr lang in der Öffentlichkeit – vom Turban bis zu den Schuhen – nur in weißer Kleidung zeigen. Danach ist er Santero oder Babalocha. Auch Frauen werden initiiert und sind dann Santera oder Iyalocha, Babalao können sie allerdings nie werden. Das Priesteramt ist Männern vorbehalten, genauer: heterosexuellen Männern, denn auch Schwule sind nicht zugelassen. Den Ausschluß der Frauen erklärt Jacinto mit der Menstruation: „Sie sind in diesen Tagen unrein und dürfen keine heiligen Handlungen vollziehen.“ Und die Homosexuellen? „Das hat Orula so entschieden“, meint er lapidar. Und da ist er sich sicher. Schließlich kommuniziert er täglich mit dem Gott der Weissagung, der nur mit Babalaos spricht.

Wie alle Santeros wirft auch der Babalao täglich 16 Muscheln. Da gibt es dann 16 Möglichkeiten. Liegen zum Beispiel 4 Muscheln mit der Öffnung nach oben, bedeutet das: „Niemand weiß, was auf dem Meeresgrund liegt“. Sind es 12: „Im Krieg schläft der Soldat nicht“. Diese änigmatischen Aussagen deutet jeder Santero auf seine Weise. Doch das „Tablero“ ist allein dem Babalao vorbehalten. Über das runde Holzbrett spricht – wie auch über den Ekuele – schließlich Orula. Es bietet, je nachdem wie und wo die 16 Palmnüsse nach dem Wurf auf dem Brett liegen, 4.096 Kombinationen. So viele Antworten kann sich auch der klügste Babalao nicht merken. Auch Jacinto kennt nicht die Bedeutung aller Ergebnisse des Wurfs, sondern nach zwölf Amtsjahren erst einige hundert. Er hat sie in einem dicken, arg zerfledderten Buch notiert, das zu Füßen einer grün-gelb gekleideten Gipsfigur des heiligen Franz von Assisi liegt, der in der Santeria eben Orula ist. Ein Blick in die geheimnisvollen Kladden wird dem Gast nicht gestattet. Berufsgeheimnis.

In Kuba hat jedes Jahr eine besondere Bezeichnung. Am 1. Januar verkündete die Granma, offizielles Organ des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei, 1998 sei „das Jahr des 40. Jahrestages der entscheidenden Schlachten des Befreiungskrieges“ – und so steht es nun täglich auf der Titelseite der einzigen Tageszeitung Kubas. Näher hätte es gelegen, sich auf den 100. Jahrestag der Unabhängigkeit Kubas (1898) zu beziehen, zumal 1999 ohnehin der 40. Jahrestag des Sieges der Revolution ansteht. Böse Zungen behaupten, Castro sei auf Nummer Sicher gegangen, vielleicht fürchte er, 1999 nicht mehr an der Macht zu sein. Auch die 420 Babalaos der Insel, die sich in der Yoruba-Vereinigung Kubas zusammengeschlossen haben, versammelten sich am Silvestertag. Sie brachten ihre Tableros mit und befragten Orula. Das Jahr 1998 sei das Jahr von Ochun und Obatala, ließ der Gott des Orakels ausrichten. Ochun, die Göttin der Liebe, entspricht, wie bereits erwähnt, der katholischen Barmherzigen Jungfrau von Cobre, die der Papst in diesen Tagen krönt. Ihre Farbe ist Gelb. Obatala ist der Gott der Vernunft und der Gerechtigkeit, er hat sein katholisches Pendant in der Gnädigen Jungfrau Maria, Schutzherrin der Gefangenen. Ihre Farbe ist Weiß. Gelb und Weiß aber sind bekanntlich auch die Farben der Flagge des Vatikans. So ist der Verdacht nicht von der Hand zu weisen, daß sich die Babalaos auf neue Zeiten einstellen. – Der Kommunismus wird vergehen, die Santeria bleibt bestehen.s