Sprung in der Platte

Der Kratzer macht den Sound oder Philosophen auf CD: „Totes Rennen“, ein Dance-floor-Ereignis der synästhetischen Art von Ester und Thomas Brinkmann  ■ Von Nils Röller

Ein deutscher Denker hebt ab – ein Warnton, dann spricht Martin Heidegger: „Wenn das Denken, von einer Sache angesprochen, dieser nachgeht, kann es geschehen, daß es sich unterwegs wandelt.“ Die Bedingungen des Wandelns haben sich verändert, nicht erst seit Love Parades neue Formen des Wandelns prozessieren.

Die Griechen, die Heidegger gern erreichen wollte, aber auf seinen Holzwegen nicht treffen konnte, wandelten und philosophierten beim Gehen. Heute sind die Marktplätze von Autos verstellt und die Wälder von Touristen bevölkert. Welche Orte bleiben da für das Wandeln? Und bewegen muß man sich, wenn man denken will, das sagt auch der Franzose Paul Virilio.

Acht Stücke mit sieben Statements von Bargeld, Foucault, Oswald Wiener, Virilio, Böhringer, Heidegger und von Förster haben Esther und Thomas Brinkmann für Clubs und Dance floor aufbereitet, für die Orte also, an denen sich für die Kölner das Denken in Bewegung setzt. Mit diesem Set gastierte Thomas Brinkmann gestern in der Friedrichstraße 103 und wird gemeinsam mit RRR noch einmal am Sonnabend in der Sparkasse in der Rosenthaler Straße auftreten. Maschinenklänge und Gedanken werden durch die Repetiermaschine der Technobeats geschickt. Die Rhythmen sprechen den Körper an, die Worte das Denken, und man ist auf einem neuen Holzweg, weil Denken und Tanzen parallel prozessiert werden wollen.

Brinkmann hat bemerkt, daß die ruhige und energische Stimme Heideggers sich gut verträgt mit den Beats, die beim Tanzen zum Verlassen irdischer Sphären führen. Dabei verwendet Brinkmann minimale Klänge, zum Beispiel solche, die durch Sprünge und Kratzer auf alten Schallplatten entstehen. Minutiös ritzt er mit dem Zirkel Muster in Platten und erzeugt so Klangfolgen, die stets wiederholt werden, weil Nadel und Plattenteller immer wieder dem Muster folgen.

Solche Wiederholungen zeichnet er elektronisch auf und bildet damit Gegenstimmen zu den Statements von Künstler-Theoretikern. Hier treiben die Rhythmen von Maschinen das Denken an, das sich seinerseits mit der Wiederholung beschäftigt. Es ist nicht Nietzsches Wiederkehr des Gleichen, sondern ein und dieselbe Diamantnadel, die antwortet und den Zuhörer lauern läßt, ob es doch eine Abweichung in der Regelmäßigkeit gibt.

Einige Stimmen hat Brinkmann auf der CD des Merve-Verlags gefunden, der anläßlich seines 25jährigen Jubiläums Worte von Autoren zu Gehör brachte. Brinkmanns „Totes Rennen“ unterscheidet sich jedoch von dieser CD und anderen Verlags-Initiativen, die Denker digitalisieren wie Supposé (Flusser, Baudrillard und Groys) oder der Neske-Verlag (Heidegger). Denn der Beat-Bastler verwendet ausgewählte Sätze und arbeitet durch Wiederholung den Stil der gesprochenen Philosophie heraus. So hört man das treibende Engagement Foucaults, der in Wartesälen, Cafés und in Discotheken Orte der Theorie definiert, die vibrierenden und trickreichen Gedankenkonstruktionen Oswald Wieners. Es stellt sich die Frage, was mit dem gesprochenen Wort der Philosophie geschehen kann: Eines ist es, Reden über das Denken zu speichern, ein anderes, Denkbewegungen zu erzeugen.

Sokrates, der Mann, der nichts schrieb, pflegte Streitgespräche auf offenen Plätzen, Rede und Gegenrede, und eben nicht die Konservierung des Genius im geschriebenen Text. Doch wäre es dumm, im Dezibelraum der Discotheken und Clubs eine Renaissance des Dialogs für möglich zu halten. Auch wäre es zu wenig, Statements zu streuen und hier und da kluge Sätze in die Beats zu mischen. Brinkmanns Qualität liegt darin, daß er Musik und Wortsinn in einen unentschiedenen Kampf um die Aufmerksamkeit der Zuhörer führt. Das ist eine Konkurrenz der Wahrnehmungsmuster. Gedanken über die Mechanismen der Wahrnehmung formuliert Oswald Wiener. Er lehrt an der Düsseldorfer Akademie Ästhetik und Poetik und führte dort in die Automatentheorie ein. Sie fragt, welche Mechanismen die menschliche Wahrnehmung und ihre Kunstfähigkeit bestimmen. Von fundamentaler Bedeutung ist dabei die Turing- Maschine, die intelligente Leistungen als Programme und Zeichenketten beschreibbar macht. Brinkmann, der sich in Vorlesungen und Seminaren von Wiener mit dem Bau von Turing-Maschinen beschäftigt hat, sieht auch künstlerische Arbeiten unter diesem Blickwinkel. Eine Kunst besteht darin, die Wahrnehmungsmuster so zu verschieben, daß man meint, man höre etwas Neues, obwohl es doch nur die Variation eines Musters ist, oder man kann wie Brinkmann Bekanntes und Störendes wie einen Sprung in der Platte nutzen, um Erwartungshaltungen zu erproben.

Der Titel „Totes Rennen“ legt nahe, daß der Mensch einen Wettlauf längst verloren hat: Mathematische Maschinen sind schneller und präziser als menschliche Maschinen, wenn es darum geht, Muster zu wiederholen. Also, sagen Thomas Brinkmann und seine Schwester Esther, kommt es darauf an, immer wieder von vorne zu beginnen, bei einfachen Klängen, die eine Maschine wie der Plattenspieler erzeugt, wenn man ihn nicht den vorgefertigten Sinngebungen der Rillen überläßt, sondern beim Knacks beginnt. Deshalb hört man im letzten Stück den Naturwissenschaftler Heinz von Förster. Er spricht eine Haltung aus, die auch die Arbeit von Brinkmanns Gewährsmännern wie RRR, Mike Ink und Panasonic prägt: „Bitte nie zu sagen: das ist langweilig, das kenne ich schon. Das ist die größte Katastrophe. Immer wieder von vorne beginnen und sagen: Ich hab' keine Ahnung, das möchte ich noch mal erleben.“

Samstag abend, Sparkasse am Rosenthaler Platz