Der kurze Winter der Anarchie

Angelika Schrobsdorff hat das von Unruhen erschütterte Bulgarien des Jahres 97 im Lichte ihrer eigenen Nachkriegserinnerungen betrachtet. „Grandhotel Bulgaria" ist ein intensives Reisejournal, das allerdings nicht frei ist von Klischees westlicher Prägung  ■ Von Barbara Oertel.

Es waren ungewohnte Bilder, die uns im Januar vergangenen Jahres aus Bulgarien erreichten. Ein brennendes Parlament, davor wütende Demonstranten, die, hungernd und frierend und der Gängelung durch die regierenden Sozialisten überdrüssig, das Gebäude zu stürmen versuchen. Polizisten schlagen mit Gummiknüppeln auf die entfesselte Menge ein, blutüberströmte Gestalten werden hektisch auf Tragen abtransportiert. Zumindest eins erreichen die Bulgaren mit ihren Aktionen sofort: Für einen Moment steht ein Land im Mittelpunkt des Interesses, das normalerweise auf erfolgreiche Gewichtheber, Joghurt, Schafskäse und preiswerten Urlaub an der Schwarzmeerküste reduziert wird. Der Mythos vom lethargischen, mit grenzenloser Leidensfähigkeit begabten Bulgaren gerät ins Wanken.

Knapp drei Wochen vor diesen Ereignissen, aufgerüttelt durch einen Anruf ihrer Nichte, macht sich eine auf, die Not der Menschen vor Ort in Augenschein zu nehmen: Die Schriftstellerin Angelika Schrobsdorff. Für die Tochter eines Deutschen und einer Jüdin ist der 10-Millionen-Einwohner-Staat kein unbekanntes Terrain. Auf der Flucht vor dem Terror der Nationalsozialisten gelangt Schrobsdorff, die in Freiburg geboren wurde, mit ihrer Mutter 1939 nach Bulgarien. Acht Jahre verbringt sie dort. Auch Jahrzehnte später, als sie schon längst in Israel eine neue Heimat gefunden hat, zieht es sie immer wieder zurück an den Ort des Exils und zu den Menschen, mit denen sie gemeinsame Erinnerungen teilt.

Derart „vorbelastet“ trifft sie am 23. Dezember 1996 in Sofia ein, mit der Idee, „einem mir nahestehenden Volk zu helfen, indem ich Zeugnis von seinem Unglück ablegte und über einen Winter berichtete, in dem womöglich Tausende an Hunger und Kälte starben“.

Um es gleich vorwegzunehmen: Dieses Vorhaben gelingt der Autorin mit ihrem Buch „Grandhotel Bulgaria, Heimkehr in die Vergangenheit“, allerdings anders, als sie es sich wohl vorgestellt hat. Schon nach der Lektüre der ersten Seiten beschleicht den Leser der Verdacht, daß es mit einer distanzierten Beschreibung aus der Vogelperspektive nichts werden wird. Zu eng verknüpft ist Bulgarien mit Schrobsdorffs eigener Lebensgeschichte, zu tief die Bindung an viele Menschen dort, als daß sie sich auf den Posten einer unbeteiligten Beobachterin zurückziehen könnte.

Vielleicht sind es gerade dieses Oszillieren zwischen dem Gestern und dem Heute, dem Bekannten und doch wieder Unbekannten sowie das Bemühen, teilzuhaben und doch nicht Teil zu werden, die diesen Bericht zu einer Momentaufnahme des Alltags im heutigen Bulgarien von besonderer Intensität machen. Da ist zum Beispiel Schrobsdorffs ehemalige Klassenkameradin Stefana, die nach einem Schlaganfall halbseitig gelähmt ist und bald, da die Ersparnisse fast aufgebraucht sind, ihre Medikamente nicht mehr wird bezahlen können.

Da ist die Ärztin und Nichte der Autorin, Evelina, die ewig den Traum von einer Ausreise zu ihrer Mutter nach Deutschland träumt, sich nach der Wende im Jahre 1989 aber endgültig für ein Bleiben in Bulgarien entscheidet. Und Bogdan, ehemaliger Ingenieur für Fahrstuhlmontage und jetzt, in den Zeiten der „Privatisazia“, Besitzer eines kleinen Ladens für Malerbedarf und Reinigungsmittel. Ausgestattet mit einer eineinhalbjährigen Erfahrung als Leiter eines bulgarischen Bauarbeitertrupps in Hamburg und mittelmäßigen Deutschkenntnissen, bringt er die Autorin in seinem klapprigen Lada sicher an jeden gewünschten Ort. Trotz funktionsuntüchtiger Scheibenwischer. „Sind mir die guten aus Deutschland gestohlen worden. Die hier bulgarische Dreck.“ Und trotz fehlender Straßenschilder. Die hat das gleiche Schicksal ereilt.

Und so ist jeder Kontakt, jede Unterhaltung ein Mosaiksteinchen mehr im düsteren Bild Bulgariens zum Jahreswechsel 1996/97. Allerdings kommen die Gespräche kaum über eine Beschreibung der Widrigkeiten des Alltags hinaus. Zu selten gibt die Autorin ihrem Gegenüber die Gelegenheit, die Gründe für die Misere darzulegen. Doch manchmal passiert auch das. Um 14 Millionen Dollar hätten die exkommunistischen Machthaber das Volk bestohlen, das nichts Besseres zu tun hatte, als ominösen Privatbanken sein Erspartes anzuvertrauen, erfährt die Verfasserin bei ihrem Besuch in Plovdiv. Was Evelinas Bruder Andre mit dem Auspruch kommentiert: „Das bulgarische Volk stinkt vor Dummheit.“

Im Gegensatz zu vielen Schreibern, die über die sogenannten Transformationsländer berichten und dabei glauben, das auch noch kompetent zu tun, erspart uns Schrobsdorff eigene, weitreichende Interpretationen des Erlebten. Meistens, nur leider nicht immer. Und so dürfen wir, anläßlich der Silvesterfeier einen tiefen Einblick in die slawische Seele nehmen – ein Stereotyp, das nur zu oft seinen festen Platz im russischen Kontext hat: „Unter den gesitteten Gästen (...) brach sich die slawische Seele Bahn – eine vom Alkohol entfesselte, vom Weltschmerz erlöste, von mächtigen Gefühlen getragene, mit Brüdern und Schwestern vereinte Seele.“

Doch sowenig die Autorin bisweilen der Versuchung tiefenpsychologischer Betrachtung widerstehen kann, so sehr bleibt sie oft dem typisch westlichen Blick verhaftet. Wie sonst sollte man die mehr als deplazierte Frage an ein Ehepaar im Sofioter Trabantenwohnviertel Ljulien verstehen, ob es nicht etwas bedrückend sei, hier zu wohnen. Ähnlich befremdlich und fast ein wenig überheblich liest sich die Beschreibung der in jenen Tagen beginnenden Proteste: „Ich konnte sie nicht nicht mehr ertragen, diese Inbrunst, diese Rührung, diese Einfalt, die unter den erforderlichen Umständen jedem Volk, jeder ideologischen Bewegung, jeder nationalen Gruppierung eigen war.“

Doch die Bewegung nimmt an Intensität zu. Schließlich dämmert es auch Schrobsdorff, daß sich mit den Kundgebungen in Bulgarien möglicherweise eine Zäsur anbahnt. „Als ich gestern abend auf der Demonstration war (...), da wußte ich, ja das wußte ich, daß es eine Zukunft gibt“, lautet ihr Fazit, als sie sich auf den Weg zum Flughafen macht.

Wie die Kraftprobe zwischen den demonstrierenden Menschenmassen und der sozialistischen Regierung ausging, wissen wir. Die Machthaber traten ab, bei vorgezogenen Neuwahlen im April siegte das demokratische Oppositionsbündnis. Heute, neun Monate danach, ist es wieder ruhig in Bulgarien. Das Land scheint auf einem besseren Weg. Doch viele frieren, hungern und kämpfen immer noch verzweifelt um das tagtägliche Überleben. Ganz leise und still.

Angelika Schrobsdorff: „Grandhotel Bulgaria. Heimkehr in die Vergangenheit“, dtv München 1997, 278 S., 26,- DM