Gestreifte Gedanken

Nicholson Baker umkreist in seinen Essays den Intellektuellen als Archivar und Denker in der Rumpelkammer. Die Sprache und das Ich stehen im Mittelpunkt  ■ Von Jörg Magenau

Meinungen sind so billig wie allgegenwärtig. Sie zu äußern ist fast so lächerlich, wie sie zu verachten. deshalb lernt man, mit ihnen zu leben. Der amerikanische Schriftsteller Nicholson Baker vergleicht seine Meinungen mit Präriehunden, von denen er gerne einen Amateurfilm gemacht hätte, während sie „auf den Feldern der natürlichen Umgebung grasten und tollten, dabei allmählich Farbe und Ton änderten, sich paarten, einen Bau gruben und starben“. Doch vor der Kamera der Beobachtung verhielten sie sich steif und befangen. Meinungen verändern sich, wenn man sie untersucht.

Dabei umschwirren Bakers leichtfüßige Gedanken Lebensbereiche, die man gemeinhin als eher unwichtig ansieht. Sie betreffen weder Fragen der Abrüstung noch die Goldhagen-Kontroverse oder die Arbeitslosigkeit. Statt dessen sprechen sie von der persönlichen Vorliebe, die ausgezogene Hose lieber über die Lautsprecherbox zu legen als auf einen Kleiderbügel zu hängen. Oder von der Abneigung gegen Menschen, die das Innere ihres Frühstücksbrötchens herauszupfen und zu Kügelchen formen. Bakers Meinungen sind keine Fanfarenstöße, um die Welt zu erwecken, sondern unscheinbare Wimpel, die er den Dingen aufsteckt, um sich in der Unübersichtlichkeit des Alltags zurechtzufinden. Das ist ziemlich unpolitisch, luxuriös, eitel. Aber es ist auch ehrlich, wenn erst einmal klar ist, daß es im Meinen vor allem um die Konturierung des eigenen Ich geht.

Der Aufsatz über Meinungen stammt aus dem Jahr 1982 und ist der älteste der Texte, die nun in dem Essayband „U & I“ auch auf deutsch vorliegen. Zwei US-amerikanische Veröffentlichungen werden damit gebündelt: „U & I“, ein 200-Seiten-Bekenntnis über Bakers obsessive Bewunderung John Updikes, erschien in den USA 1991. Die Essays von 1982–1996 kamen dort fünf Jahre später unter dem Titel „The Size of Thoughts“ heraus und bilden nun – um zwei Texte gekürzt – den zweiten Teil der deutschen Ausgabe.

Schon in den frühen Texten ist die ganze Poetologie des Autors der detailverliebten „Rolltreppe“, des Telefonsexromans „Vox“ und zuletzt des ziemlich kernigen Pornos „Die Fermate“ enthalten. Von Anfang an ist seine schwindelerregende Beredsamkeit voll entfaltet. Mühelos schreibt er über die Eleganz von Fingernagelknipsern, über ewig ungebaute Modellflugzeuge die mit ihren Einzelteilen wie „ein explodierter Blick“ in ihren Schachteln ruhen. Und wenn er sich schwerer faßbaren Gegenständen wie eben Meinungen oder Gedanken nähert, dann werden auch die zuerst in Dinge verwandelt: „Jeder Gedanke hat eine Größe, und die meisten sind ungefähr einen Meter groß und besitzen das Komplexitätsniveau eines Rasenmähers, eines Feuerzeugs oder jener Zahnpastatuben, die, indem sie mehrere verborgene Pasten und Gele zusammenmischen, ein angenehm gestreiftes Produkt erzeugen.“

Baker ist ein radikaler Materialist – oder doch zumindest ein Antiidealist. Er stellt keine Theoreme her. Statt durch logische Stringenz der Argumentation, überwältigt er durch die Plastizität seiner Bilder und zieht seine Wahrheiten aus Metaphern wie Korken aus der Flasche. Baker, Jahrgang 1957, verkörpert den Intellektuellentypus der 90er Jahre, der nicht mehr unter der Fahne des Universalismus antritt und moralisches Engagement propagiert, sondern der sich als Spezialist des Partiellen versteht. Statt vom Allgemeinen spricht er von sich selbst. Statt Wahrheiten zu verkünden, beobachtet er bloß. Statt des Erhabenen pflegt er das Unscheinbare. An den großen Gedanken interessieren ihn die Verwerfungen an der Oberfläche, die Diversifizierungen in viele kleine Gedänkelchen, die er mit den Zotten an der Innenseite des Dünndarms vergleicht.

„Große Wahrheiten“, schreibt er, „werden wie gütige Madonnen von Dutzenden geschäftiger, fröhlicher Engel des Details hochgehalten.“ Diese unscheinbaren Einzelheiten sind jedoch so lebendig und so vielfältig, daß man den großen Gedanken darüber nicht immer erkennen kann. Im Zentrum der Bakerschen Wortorkane herrscht meistens Stille. Seine Texte sind leer, oder anders, freundlicher formuliert: Sie sind nichts als die Oberfläche, von der sie handeln. Darin besteht ihre tiefe Wahrheit und ihr entsetzlicher Mangel.

Wie zu den Dingen unterhält Baker auch zur Sprache eine sinnliche, erotische Beziehung. Worte, laut vorgelesen, entfalten sich in seinem Mund „wie Liegestühle“, treten nacheinander heraus, „angetan mit großen sibirischen Konsonantenhüten und langen, hermelinösen Vokalen“. Baker sammelt Worte wie andere Leute Briefmarken. Mehr als zehn Jahre forschte er zum Beispiel nach Stellen, in denen der englische Begriff „lumber“ vorkommt und schrieb schließlich einen 150-Seiten Essay darüber – ein zentraler Text, der in der deutschen Ausgabe leider fehlt. So manisch dieser Wortfetischismus auch anmutet – „lumber“ (Gerümpel, Bauholz) rückte nicht zufällig ins Zentrum von Bakers Aufmerksamkeit. In einem Interview sagte er: „Gerümpel, all das Zeug, das man wegpackt, weil man keine Verwendung dafür hat, ist für den Schriftsteller unberührtes Material. Man kann nie sicher sein, ob man sich in der Gerümpelkammer oder im zentralen Scheinwerferlicht befindet. Und vielleicht ist der zentrale Ort des Schriftstellers ja die Rumpelkammer.“

Über Abseitiges zu schreiben hat aber nicht nur poetische, sondern auch markttechnische und egoistische Ursachen. Es ist die Suche nach Erkenntnisnischen, die noch nicht beschrieben sind, eine Reaktion auf die Informationsflut, die in der Wissenschaft zu Themen wie „Die Rezeption von Goethes Wahlverwandtschaften im Südafrika der Apartheid“ führt und die auch die Literatur ins Spezialistentum zwingt. Ein anderer von ihm bevorzugter Aufenthaltsort ist das Archiv. Der Intellektuelle der 90er betätigt sich vorzugsweise als Katalogisierer, Rubrizierer, Rechercheur, denn er kämpft noch darum, den Überblick zu behalten. Sinnfällig wird das in Bakers Aufsatz über die Umwandlung der Bibliotheks-Zettelkataloge in EDV- Dateien.

Obwohl er alles andere als ein gänsekielromantischer Computerfeind ist, beklagt er vor allem die Verluste, die damit einhergehen. Nicht nur, daß die Maschine oft dümmer ist als der alte Katalog, wenn sie beispielsweise „labor“ (= Arbeit) und „labor“ (= Labor) nicht auseinanderhalten kann und bei Stichworteingabe eine wild gemixte Liste ausspuckt.

Als Archivar der Dinge interessiert Baker sich darüber hinaus für all die „Sekundärinformationen“, die ein Zettelkatalog enthält: die Abgegriffenheit der Karten; Schmutzspuren und Fettflecke, die verraten, in welchen Begriffsregionen die Besucher vorzugsweise blätterten; die Initialen der Bibliotheksmitarbeiter, die das entsprechende Buch einst einsortiert und beschrieben haben; die Querverweise, die in der EDV-Fassung häufig wegfallen; die sinnliche Erfahrbarkeit der schieren Größe einer Bibliothek für den, der vor den Katalogen steht. Die Verwandlung von Dingen in Daten ist für einen Autor wie Nicholson Baker, der die Gegenstände auf ihre Gebrauchsspuren hin abklopft, naturgemäß ein Feind, der ihm die Grundlage seines Schreibens entzieht. Wenn Literatur „das Bemühen ist, mit dem Leben genauer zu sein“, wie es in dem Updike-Essay heißt, lassen Datenbanken eben nur noch wenig Spielraum.

Am meisten Verlaß ist in der unübersehbaren Dingwelt der 90er Jahre noch auf das eigene Ich. Das Ich ist der literarische Gegenstand, der nicht abhanden kommen kann. Alle Aufmerksamkeit gilt ihm, selbst dann, wenn von ganz anderen Dingen die Rede ist. „U & I“ – Updike und Ich – ist so ein Text, der eigentlich besser „I & I“ hieße. Baker erfindet hier das neue Genre der „Erinnerungskritik“ oder „Closed-book-Betrachtung“. Er schreibt, ohne noch einmal nachzulesen, nur über das, was ihm von seiner Updike-Lektüre in ungefährer Erinnerung blieb, und über die wechselnde Bedeutung, die Updike in seinem Leben hatte. Damit klärt er in erster Linie sein eigenes Verhältnis zur Literatur. Er versucht, seine literarischen Fähigkeiten im Vergleich mit dem Meister zu ermessen und zögert nicht, auch peinliche Bekenntnise über seinen schriftstellerischen Werdegang und nächtliche Berühmtheitsphantasien abzulegen.

So erlaubt „U & I“ einen Blick in die sehr intimen Gemächer schriftstellerischer Eitelkeit. Baker erzählt, daß er manchmal nicht schlafen konnte, weil er prophylaktische Dankesreden für Preise formulieren mußte, die er dann aber gar nicht bekam. Er klagt über die narzißtische Kränkung, die er erlitt, als er erfuhr, daß Updike den Schriftsteller Tim O'Brien einlud, mit ihm Golf zu spielen, und nicht ihn, den doch so unvergleichlichen Nick Baker. Und schließlich fragt er auch: Ist ein Bekenntnis zu Updike überhaupt ratsam? Ist das nicht viel zu unoriginell, da Updike doch zum Common sense und in jedermanns Bücherschrank gehört?

In „U & I“ überwiegen solcherart die Geständnisse. Baker hält, was er in diesem Buch von sich preisgibt, für weit peinlicher, als seine Pornophantasien in „Die Fermate“, für die er „einen isolierten Teil des 14jährigen Nick“ verantwortlich machen konnte. Die Schriftstellerbekenntnisse aber erfüllen ihn „wirklich mit Scham“, wie er einmal sagte: „Das ist ein Teil meiner selbst, von dem ich wirklich nicht will, daß die Welt darüber Bescheid weiß. Aber ohne das Gefühl, daß du dich in Schwierigkeiten bringst oder ein bißchen Durcheinander und Dramatik in deinem Schriftstellerleben erzeugst, verliert das Schreiben seine Energie.“ So spricht der Autor als Exhibitionist, der den Kitzel der Selbstentblößung braucht. Der Intellektuelle der 90er Jahre ist ein solcher Exhibitionist. Er sucht nicht mehr das Engagement, sondern das Geständnis. Und am Ende gibt er vor, sich sehr darüber zu wundern, wenn seine Leser sich in seinen privaten Vorlieben und Marotten, Perversionen und Nöten wiedererkennen. Aber so ist das: Auch die egomanische Beschäftigung mit dem eigenen Ich erzeugt eine schöne, tröstliche Gemeinsamkeit, in der man sich für nichts mehr zu schämen braucht.

Nicholson Baker: „U & I. Wie groß sind die Gedanken?“. Essays. Aus dem Amerikanischen von Eike Schönfeld. Rowohlt Verlag, Reinbek 1998, 460 S., 39,80 DM