"Sind wir auf Sendung? Sind wir noch da?"

■ Der Theater- und Filmemacher Christoph Schlingensief will in diesem Jahr Wahlkampf für Arbeitslose machen. Er will ihnen nicht jede Woche ein Lunchpaket mit Bierflasche und Pornokassette schicken,

taz: Sie wollen zusammen mit Harald Schmidt im Wahlkampf in diesem Jahr Werbespots mit Arbeitslosen finanzieren. Warum schlagen Sie sich auf die Seite der Arbeitslosen?

Christoph Schlingensief: Weil Kunst sich ins Leben einmischen muß. Die Bundesregierung hat ja gar keine Vorstellungskraft mehr davon, daß sechs Millionen Arbeitslose diesen Staat aus den Angeln heben können. Allerdings: Wenn Helmut Kohl weg ist, haben wir die jetzigen Verhältnisse auch noch.

Zur Zeit befinden wir uns in einem Fatalismus – und diese Lethargie äußert sich dann in so kleinen Spielausbrüchen wie der Studentenbewegung, wo Studenten Fußball spielen vorm Brandenburger Tor.

Ist das lächerlich?

Ich will jetzt nicht sagen, daß man Bauwagen anzünden muß. Das alles ist mir als Kleinbürger auch zuwider – fast zuwider, sag' ich mal. Ich setze nur auf den Prozeß des Menschen, daß er sich in der Öffentlichkeit wieder erleben will. Und zwar nicht dadurch, daß er sich bei Hans Meiser vor laufender Kamera den Arm abhackt, sondern daß er sich einfach fragt: Bin ich überhaupt noch da? Warum bin ich da? Und diese Überprüfung findet statt, indem man ein Forum schafft.

Wie wollen Sie so ein Forum schaffen?

Man könnte Arbeitslosigkeit zum Beispiel zu einer Holding aufbauen, zu einer Firma, die einen neuen Bewußtseinsstand herstellt. Arbeitslosigkeit ist ja ein traumatischer Zustand, und jeder traumatische Zustand transformiert Menschen. Das heißt, je mehr Unglücke einem zustoßen, desto mehr Antennen werden wach, Dinge in einer anderen Bewegung zu empfinden als in der Grundhaltung: Alles ist gut, alles ist prima.

Und eine Möglichkeit, dieses „Alles ist gut, alles ist prima“ zu überwinden, sind also Arbeitslose auf Werbetafeln?

Genau, aber die beim öffentlich-rechtlichen Fernsehen haben dafür überhaupt kein Interesse. Die haben den großen Schiß im Kopf, daß sie die Sendung so gestalten wollen, daß man am Ende sagt: „Du bist hochgradig anständig, Knut! Das hast du ganz toll gemacht, wie du über deine Arbeitslosigkeit geredet hast.“

Wenn's nicht die Betroffenheitsnummer sein soll – was dann?

Es muß Selbstbewußtsein her! Ich kann Ihnen sagen, seit ich die Idee vergangene Woche im Fernsehen bei Biolek vorgestellt habe, geht's hier rund. Wir haben Anrufe von Diplompsychologen, Marketingfirmen, Internet-Experten, die mitmachen wollen.

Wie soll Ihr Projekt konkret aussehen?

Wir sind ein Stab von fünf Leuten. Ab Anfang Februar mache ich an der Volksbühne Berlin so ein Wahlkampfbüro auf. Dann brauchen wir noch einen Wahlkampfort, wohin wir Prominente einladen. Wir werden einen heiligen Raum einrichten, in dem dann Krücken eines Arbeitslosen stehen müßten, wenn er plötzlich ohne Krücken laufen kann.

Wie wollen Sie Ihren Wahlkampf für Arbeitslose finanzieren?

Wir gründen die „Alfred-Edel- Stiftung“, die wohl Anfang März ins Leben gerufen wird. Das beste wäre natürlich, im September präsent zu sein, wenn auch die anderen Parteien ihre Fernsehspots schalten.

Wenn Kohl in Niedersachsen seine sechs Wahlkampfauftritte gegen Schröder abzieht, werde ich auch da sein und Wahlkampf machen. Zwischendurch werde ich wahrscheinlich eine Arbeitslosenoper in Zürich inszenieren und im Anschluß eine Wahlkampftour durch ganz Deutschland. In Berlin mache ich ab 13. März den Reflexions-Zirkus, in dem sich 16 Jahre Bundesrepublik spiegeln und wir alle die Artisten sind.

Was soll die Stiftung sonst noch finanzieren?

Also wir wollen nicht den Arbeitslosen jede Woche ein Lunchpaket mit einer Bierflasche, einem Schinken und einer Pornokassette von Beate Uhse schenken. Statt dessen wird die Stiftung zwei bis drei Theoretiker finanzieren, die sich nur darüber Gedanken machen, was das genau ist: Arbeitslosigkeit. Auf Versammlungen in Theatern in der ganzen Bundesrepublik könnte man die Ergebnisse dieser Untersuchung dann vorstellen. Gleichzeitig werden wir versuchen, im Fernsehen Sendeplätze zu erobern, und immer wieder dieses Thema vorbringen.

Würden Sie auch mit so prominenten Arbeitslosen wie Margarete Schreinemakers zusammenarbeiten?

Ja, das wäre sicher nicht uninteressant. Aber wir werden auch vermeintliche Sympathisanten anklagen, Gewerkschaftsführer etwa, die immer noch die Politik fahren, lieber über alles hinwegzutrösten, als klar zu sagen, was Sache ist. Mittlerweile ist nämlich die linke Seite auch ganz schön belämmert. Ich kann Ihnen nur so viel sagen: Ich nehme das alles sehr ernst ...

Obwohl die kritischen Intellektuellen, um es mal vorsichtig auszudrücken, gegenwärtig nicht besonders gefragt sind?

Ich merke das einfach an mir selber und an anderen, daß es heutzutage ein großes Bedürfnis gibt, festzustellen, ob man noch existiert. Das ist der Kernsatz der Stiftung: Sind wir noch auf Sendung? Sind wir noch da?

Glauben Sie, daß Arbeitslose das wirklich interessiert? Die wollen doch nicht ins Fernsehen, sondern schämen sich, arbeitslos zu sein.

Ja, das ist ein Problem. Das ist genauso, wie wenn man Aids hat: Meist sagen nur Künstler abends in der Kneipe nach zwei Bier, daß sie Aids haben – und gelten dann als larmoyant oder prätentiös. Auch bei der Arbeitslosigkeit muß man den Leuten endlich mal ausreden, daß das ein Versagen bedeutet: Nicht die Arbeitslosen versagen, der Staat versagt. Arbeitslose sind Arbeitssuchende, also äußerst wichtig als Archäologen der Gesellschaft.

Wollen Sie die „Versager“ abwählen?

Wenn wir jetzt Helmut Kohl nicht den Vertrag verlängern, kommen zwar andere, aber das vertuscht den Stillstand nur. Also müßte man Helmut Kohl verstabilisieren, auf daß dieser Stillstand so unerträglich wird, daß es dann zur Revolution kommt.

Um was geht es Ihnen, wenn nicht um politischen Einfluß? Um Christoph Schlingensief?

Es geht einfach noch mal darum, dunkle Bedürfnisse in Menschen zu schüren, um zu sagen: Kann das überhaupt noch wahr sein, daß es so läuft, wie es läuft? Ist verordnete Arbeitslosigkeit nicht schon verordneter Massenmord? Sind das nicht schon sechs Millionen Leichen, die wir da rumlaufen haben?

Ich meine, das ist auch der CDU klar, wie gefährlich es ist, wenn man das mal im Ernst durchdenkt.

Glauben Sie, daß man das Verhältnis der Deutschen zu Arbeitslosigkeit so einfach ändern kann? Schaut man auf die Arbeitslosen- Revolten in Frankreich, läuft hier alles doch in sehr festen Bahnen ab.

In Frankreich ist das Hauptthema Arbeitslosigkeit, in Deutschland Umweltkatastrophe. Das heißt, Konrad Adenauers „Keine Experimente“ ist einfach in den Köpfen drin.

Wir wollen lieber im Stillstand verharren. Aber unser Stillstand ist so abgefedert und so entfremdet, daß die Leute mittlerweile gar nicht mehr wissen: Sind sie selber beruhigt worden, oder hat sich die Umgebung einfach mal kurz dazu entschlossen, ein bißchen ruhiger zu werden. Äußerlich haben wir überall Höchstgeschwindigkeit: im Fernsehen, auf den Straßen, im Geschäftswesen. Aber hinter dieser äußeren Höchstgeschwindigkeit verbirgt sich absoluter Stillstand. Die wahre Höchstgeschwindigkeit ist im depressiven Menschen.

Depression beschleunigt immer nur alle Faktoren im Gehirn, weil man sich selber nicht mehr abreagieren kann. Und diese Depression muß man eben wieder mal im Bild fassen, und das wollen wir. Man muß es einfach machen.

Die Frankfurter Rundschau hat vor kurzem kritisiert, die Phase „Schlingensief und das soziale Elend“ diene allein dem „höheren Ruhm des Herrn S.“.

Und wenn schon. Die Frankfurter Rundschau ist mittlerweile ein nach rechts tendierendes Studentenblättchen, das 68er- Gedanken mißbraucht. Was ich mache, ist oft Ausdruck des eigenen Selbstzweifels. Warum sollte ich als Halbintellektueller auf der Bühne irgendwelche Stückchen inszenieren, in denen die Mittelschicht oder die Frankfurter Rundschau drinsitzt und sagt: „Aha, sehr interessanter Ansatz“?

Das Theater und die FR sind so kaputt, so fertig mit den Nerven, Kultur ist so am Ende, weil das alles muß gar nicht mehr dasein, da leg ich mir doch lieber 'ne Schallplatte auf, da hab ich mehr davon. Interview: Markus Grill