Ein Mythos in der Midlife-crisis

Die einen ziehen nach Ostberlin, die anderen ins Eigenheim, die meisten aber bleiben und werden einfach älter. Die Kreuzberger trotzen der neuen Hauptstadt, den eigenen Problemen und der Sehnsucht nach alten Zeiten  ■ Aus Berlin Vera Gaserow

Hannes, der von der Solibrigade in Nicaragua, ist ja schon lange weggezogen, nach Berlin-Mitte, weil's „da so wie früher in Kreuzberg ist“, hat dort die revolutionären 80er Jahre wieder auf Anfang gedreht, der Hannes. Und Armin, ach der Armin, der Taxi fahrende Brain-Trust der Linksradikalen, hat gleich nach dem Mauerfall die Sachen gepackt. Wohnt jetzt im Plattenbau im Osten, bei der arbeitenden Normalbevölkerung, da zog es ihn schon immer hin. Sabine ist, wie viele jetzt, mit ihren Eltern ins eigene Haus am Stadtrand gezogen.

Die Galerie in der Oranienstraße ist nach Prenzlauer Berg gewechselt, dort steppt jetzt der Bär, Kreuzberg war einfach nicht mehr das „Ambiente“. Hier werden nicht mal mehr den Schickimicki- Restaurants die Scheiben eingeworfen. Auch das passiert jetzt im Osten. „Out“ sein kann auch entlasten. Aber nun kommt Walter, der Wirt vom „Elefanten“, wo morgens die Handwerker und Frührentner sitzen und abends die ergraute Szene. Würde nie wegziehen, der Walter, „hier bist du nie einsam“, aber er schaut auf den Heinrichplatz und sagt: „Hier läuft nichts mehr, ein Drittel Umsatzeinbuße, ist doch alles tot.“

„Tot“ – für einen Stadtteil, der als Inkarnation des schrillen, prallen, alternativen Lebens galt, so rufschädigend wie ein Doppelkinn für Claudia Schiffer. Doch Kreuzberg ist erprobt in der Schaffung und Zerstörung seiner eigenen Mythen. Gestimmt haben die eh nie so richtig. Genausowenig wie jetzt die neue Rolle: Kreuzberg, der abgehalfterte Stadtteil, das Ghetto vor dem Umkippen in Verslumung, Tristesse und Gewalt. Dabei kann, wer Kreuzberg nicht nostalgisch an dem mißt, was es vielleicht einmal war, ein erstaunliches Phänomen beobachten: Der Bezirk führt einen Drahtseilakt vor. Er versucht mit Hilfe all seiner Widersprüche seiner eigenen Realität zu widersprechen.

Die Realität ist unübersehbar und hat ihre Symbole. Eines steht im Kreuzberger Rathaus. Ein Automat, der einzige in Deutschland, der per Chipkarte Sozialhilfe ausspuckt. 150.000 Einwohner hat der Bezirk, mehr als Koblenz oder Darmstadt, beinahe jeder sechste lebt von der „Stütze“. Auch das zweite Symbol, zwei Kilometer weiter, steht für einen Rekord: das Arbeitsamt IV in der Charlottenstraße verzeichnet für Kreuzberg eine Erwerbslosenquote von fast 30 Prozent, soviel wie in keiner anderen deutschen Großstadt.

Doch gemessen an der Dramatik seiner sozialen Fakten hält sich Kreuzberg erstaunlich stabil. Die Armut ist sichtbar, aber sie hat nicht Besitz ergriffen von dem Stadtteil. Als die Gewerkschaft der Polizei jetzt eine Rangliste der Bezirke mit der höchsten Alltagskriminalität erstellte, lag nicht etwa Berlins Armenhaus an erster Stelle. Kreuzberg, das fürs Jahr 2000 mit 40 Prozent nichtdeutscher Bevölkerung rechnet, rangierte auf einem guten 10. Platz unter 23 Bezirken.

Wrangelstraße, die Schmuddelmeile des legendären SO 36, im härtesten Kiez des Bezirks. In den Straßenzügen links und rechts ist gut jeder zweite Bewohner fremder Herkunft. Für 70 Prozent der Schüler in vielen Grund- und Hauptschulen ist Deutsch nicht die Muttersprache. „Es gibt Schüler“, sagt ein Kreuzberger Schulleiter, „für die ist der Lehrer der einzige Mensch am Tag, mit dem sie deutsch sprechen. Die gehen eher für die letzte Schlacht der PKK auf die Straße als gegen die Lehrstellenmisere.“ Vor Kaiser's Supermarkt treffen sich die Alkis, im St.- Marien-Kloster drängeln Obdachlose zur Essensausgabe. Immer häufiger hört man dort osteuropäische Sprachfetzen. Nebenan im Naturkostladen klingelt die Kasse, daneben haben türkische „Import- Export-Läden“ Hochkonjunktur. „Die Wrangelstraße“, hört man munkeln, „ist eine einzige Geldwaschanlage.“

„Der Kiez verlottert“, klagt Clara Luckmann, Mitgeschäftsführerin im legendären Mehringhof und Anwohnerin im Wrangel- Kiez, „immer mehr Müll liegt auf der Straße, und man könnte den ganzen Tag damit zubringen, sich um Verrückte oder randalierende Jugendliche zu kümmern.“ Wegziehen? Ja, das hat sie überlegt, aus Sorge um ihren Sohn – und ist geblieben. Denn selbst hier hat Kreuzberg seine Qualitäten: begrünte Innenhöfe, Hausgemeinschaften aus Besetzerzeiten, Bioläden, Cafés, Schülerläden, Kinderzirkus am Görlitzer Park. Im Sommer verliert diese übernutzte Grünanlage ihre Grasnarbe und bei Dunkelheit auch ihre Sicherheit. Dann wird sie zum Revier der jungen türkischen oder arabischen „Platzhirsche“ und ihrer Hunde. Ihre öffentliche Dominanz sorgt für ein Gefühl von Fremdheit und Unsicherheit. Aber Gefahr?

„Bis auf ein paar ausgetickte Spinner“, meint Harald Klenk, Gründer und „Mädchen für alles“ im benachbarten Ratibor-Theater, „ist das hier kein gefährliches Pflaster.“ Klenk hat 1980 eine der Institutionen des alternativen Berlins mitbesetzt, das „Kerngehäuse“ in der Cuvrystraße. Heute ist der Gebäudekomplex mit Wohnungen, Werkstätten und Theater im Besitz seiner rund 60 Bewohner. Ein renoviertes Altbauareal, mit kommunikativer Infrastruktur und professionalisierter Selbstverwaltung. Nicht viel mehr, aber auch nicht weniger. „Kreuzberg“, sagt Klenk, „ist keine exotische Insel mehr. Ich häng' nicht an diesem Mythos. Man kann ja nicht 20 Jahre lang seine Pubertät ausleben.“ Das klingt wie die Grundstimmung im Bezirk – nicht wehmütig, eher müde und desillusioniert von den eigenen Ansprüchen mit Tendenz zur kollektiven Midlife-crisis. Öffentlich gehört das Klagen zum guten Ton, doch – „ehrlich gesagt, so persönlich“ – dem einzelnen geht es nicht viel schlechter als früher.

Gleichwohl lebt der Bezirk von seiner Substanz, und keiner weiß, wie schnell die bröckelt. Kaum eine der Prognosen über Kreuzberg ist jemals eingetroffen – weder die von dem „befreiten“ revolutionären Gebiet noch die von der Verdrängung durch Yuppies und Bonner Beamte. Bleibt das, was ist: die äußere Substanz der noch knapp vor dem Mauerfall sanierten Altbauten und die innere: die zwei Säulen Kreuzbergs, Produkte der 70er Jahre, die getrennt voneinander existieren und in ihren Lebensentwürfen kaum gegensätzlicher sein könnten.

Da ist die türkische Community, die mit ihrer „Onkelökonomie“ eine Jugendarbeitslosigkeit von 50 Prozent notdürftig abfedert. Türkische Gewerbetreibende schaffen für Neffen, Brüder oder Kusinen einen informellen Arbeitsmarkt. Mit der Arbeitslosigkeit unter jungen Migranten kann auch der nicht Schritt halten, aber dem Zerbröseln der großfamiliären Zusammenhänge hat er standgehalten. Und da sind die Akademiker und Mittelschichtler, die aus dem alternativen Leben in Berufskarrieren hineingewachsen sind oder sich „durchwurschteln“. Inzwischen hat die Krise auf dem Arbeitsmarkt längst auch im akademischen Mittelfeld Einzug gehalten. Doch in der Vielfalt alternativer Strukturen läßt sich damit leichter leben als in anderen Bezirken. Das dichte Projektenetz hält diese Gruppe im Stadtteil und schafft – unspektakulär und immer von Sparplänen bedroht – Ventile für Kreuzbergs soziale Spannungen.

Hochwertige Damenblusen, meine Herrschaften, zum halben Preis für jetzt sage und schreibe 10 Mark. Schlagen Sie ein Schnäppchen im Kaufhaus „Fox“! ruft die unnachahmliche Propagandistin täglich zur Happy Hour am Kottbusser Damm. Das „Fox“ ist der Arme-Leute-Couturier von Kreuzberg. Hier gibt es das, was Karstadt ausrangiert hat. Wer Zeit zum Wühlen hat, und die haben jetzt viele, kann für wenig Schein viel Sein einkaufen. Inmitten der Grabbeltische, auch das Kreuzberger Normalität, bieten Musliminnen Kopftücher an.

Einige hundert Meter weiter, vorbei an den Junkies am Kottbusser Tor, verkauft „Fannkusch“ in der Oranienstraße Leinenklamotten, jedes Teil so teuer wie ein halbmonatlicher Sozialhilfesatz, beim Edelitaliener „briganti“ machen ehemalige Besetzer und Besserverdienende, die es mit Senatssubventionen zu Hauseigentum gebracht haben, Mittagspause. Die Kreuzberger Szene ist erwachsen – und zum Teil auch wohlhabend – geworden. Hier zu leben ist kein ökonomisches oder politisches Muß mehr. Es hat eigene Qualitäten, die viele erst schätzen lernen, wenn sie im Einfamilienhaus am Stadtrand sitzen. Kreuzbergs Avantgardecharakter ist verlorengegangen, geblieben ist eine dörfliche Nähe ohne Wüstenrot-Mief. Wer zum Zahnarzt oder Anwalt muß, geht zu „Paul“ oder „Ulrich“, im „Babylon“ oder „Yorck“ laufen die Premierenfilme, Tangoschulen gibt es gleich mehrere um die Ecke, türkischer Elternverein, polnischer Sozialrat, Solar-Fabrik, türkisches Anti-Drogen-Café – allein in einer Straße. Wer nicht will, muß das Dorf nicht verlassen. Was nach bornierter Kiez-Provinzialität riecht, schafft jene urbane Lebensqualität, die eine rastlose Metropole aushaltbar macht.

„Laß mer in Ruhe, sonst jibts eins auf de Nuß“, am U-Bahnhof streiten sich die Alkies, in einer Spielstraße drohen sich Autofahrer mit Fäusten. Irgendwer hat immer wem die Parklücke oder die Schnapsflasche geklaut. Das Klima ist rauher geworden, wie überall in Berlin. Aber Kreuzberg hat bislang etwas von seiner pragmatisch- selbstverständlichen Toleranz über die Jahre gerettet. Nach wie vor herrscht zumindest friedliche Koexistenz – zwischen unterschiedlichen Kulturen und Lebensstilen, zwischen sinnsuchenden Schwaben und Männern wie „Mütze“ mit seiner Basecap, der durch die Kneipen zieht und „schwarz“ Klopapier verkauft, zwischen Murat mit seinem Jaguar und umweltbewußten Stattauto- Nutzern. „Ich kenne keine andere Stadt“, sagt Bernd Steinmeyer, Urgestein der Projekteszene, „wo man jemanden nicht einfängt, wenn er austillt, sondern ein Warndreieck aufstellt, bis er sich ausgetobt hat.“ Doch die friedliche Koexistenz zeigt Risse und kommt oft nicht mehr ohne Schlichter aus. Einer steht, wie zum Symbol, seit dem vergangenen Sommer in Kreuzbergs Freibad – eine Trennwand als Sichtblende zwischen barbusigen Feministinnen und türkischen Jungmännern.

„Kreuzberg“, meint Franz Schulz, der grüne Bürgermeister des Bezirks, „wird nie mehr das der 70er oder 80er Jahre sein. Aber es ist innovativ, widerborstig und etwas Besonderes geblieben.“ Das Wort „Niedergang“ rutscht dem sonst so penibel-korrekten „Dorfschulzen“ nur aus Versehen raus, „Strukturkrise“ heißt das doch, „und die wird den Bezirk noch ein paar Jahre rumwirbeln“. Von ihr, prognostiziert Schulz, wird Kreuzberg sich nur in dem Maß erholen, wie Berlin es tut.

Bloß wird Kreuzberg dann vielleicht gar nicht mehr sein. Im Zuge der Bezirksreform soll es mit Tiergarten und Mitte dem Regierungsbezirk – ausgerechnet! – einverleibt werden. „Kampf der Bezirksreform“, warnt deshalb ein Graffiti-besprühter LKW vor der Kolonialisierung, „Kreuzberg ist nicht Hongkong!“ Über die Parole hat man herzlich gelacht. Nur, wirklich interessiert hat sie keinen, nicht mal die verbliebenen Restautonomen. Kreuzberg hat Schlimmeres überlebt als seine Auflösung.