Der coole Hänfling

■ "Ich bieg dir 'n Regenbogen. Rio Reiser - Rockpoet": Eine Dokumentation von Peter Möbius, dem ältesten Bruder des "Königs von Deutschland", und Hanno Brühl (Sa., 23.40 Uhr, arte)

Findelkind im Bombentrichter, gerettet von einem Rotarmisten, adoptiert von einem Fabrikantenehepaar – wie alle Entlein, die gern Schwäne wären (oder verwunschene Prinzen), hat auch RioI. tüchtig an seiner Biographie gestrickt. Damals hieß er noch Ralph, und daß der Vater in Wirklichkeit das zerbombte Berlin fotografierte, bevor er in der Provinz im Auftrag von Siemens Kühlschränke baute – was kümmert's den Poeten? Mögen schnöde Dokumentaristen die Prosa der Verhältnisse nachtragen.

Peter Möbius kann beim Dokumentargeschäft immerhin in Anspruch nehmen, dabeigewesen zu sein: Er ist der älteste Bruder des Mannes, der sich nach einem Roman des 18. Jahrhunderts „Reiser“ nannte und später mit der marodierenden Frontstadtkapelle Ton Steine Scherben zeitweilig Kreuzberg befreite. Als Rebell ohne Parteibuch, aber with a cause: „Ich will nicht werden wie mein Alter“, röhrt Rio Reiser in dem einstündigen Porträt, das Möbius mit etwas Hilfe von WDR-Mann Hanno Brühl gebastelt hat – ein Satz, der das Antrittsprogramm eines Antiautoritären auf den Punkt bringt, bevor der Begriff dafür überhaupt erst erfunden wurde.

Mit quasi familiärer Anteilnahme geht der Blick zurück in ein frühes Deutschland, dessen Kulturofferten nur autodidaktisch zu entkommen war. Rio als Träumer am Fenster, Rio, der Karl-May-Leser, Rio beim Satteln des elterlichen Klaviers – ein stiller Junge sei er gewesen, berichtet die Mutter; nur damals, als er den Soundtrack zu „Ben Hur“ nicht rechtzeitig bekam, „da ist er regelrecht ausgeflippt“. Vom Ernährer, dessen wechselndes Berufsglück die Familie von Bayern über Franken und das Schwabenland bis hinauf nach Hessen führte, zeigen Möbius/Brühl nicht viel mehr als einen Schatten. Und wenn sie die Wehrmachtsuniform des Vaters nicht tatsächlich auf dem Speicher wiedergefunden haben, so haben sie sie dort zumindest schön wieder aufgehängt.

Die Geschichte Rio Reisers ist die Geschichte eines Klassenverrats aus Mangel an Identifikation und Überschuß an Gefühl. Nach geschmissener Schule und mehr schlecht als recht absolvierten Erwerbstätigkeitsversuchen im Fotolaborantenbereich beginnt für den jungen Reiser der Abstieg aus der Kleinbürgerlichkeit, der zugleich endlich hinführt zu dem Vagantenwesen der Beatbands und umherschweifenden Haschrebellen. In Berlin, der Stadt, die die Verlierer und Versager der Republik schon immer angezogen hat, versuchen die Möbius-Brüder sich im gerade entstehenden Off-Bereich – mit Rio als Komponist und Textdichter. Wenn die Bilder eines bezeugen, so dies: Der Held, ein Hänfling mit Oberlippenflaum und ruinösem Gebiß, sah dabei cooler aus, als er selbst zu hoffen wagte.

Eine Szene zeigt ihn in klassischer Pose: mit Schiebermütze und Klampfe vor agitationswilligem Jung- und Lumpenproletariat, die deutsche Variante von John Lennons „Working Class Hero“, doch weit entfernt von den Organisationsvorstellungen deutscher Studenten. Die historische Großtat von Ton Steine Scherben, die Erfindung der Hausbesetzung mit Musik, war eben mehr Action directe als ökonomistisches Aufbauprogramm – Agitprop in Frühpunkmanier. Nach Kreuzberg zu gehen und sich das leerstehende Krankenhaus Bethanien zu nehmen hieß, Raum für „Saturnalien der Linken“ zu schaffen, wie Reiser selbst in seiner 1994 erschienenen Autobiographie schrieb. Der Begleitgesang dazu war Rios Erfindung: jenes Kreuzberger Nölen, das noch heute im „Hassema 'ne Mark?“ vor Supermärkten nachklingt.

Wie alle Feste währte die spontane Neuverteilung von Sex, Raum und Genußgütern nur die eine historische Sekunde, in der die Widersprüche wundersam eingeschläfert waren. Von da an ist die Geschichte von Rio und den Scherben zwar immer noch ein Kampf um Räume und Möglichkeiten – im Grunde aber bereits ein Rückzugsgefecht. Die Anarchistenrepublik verlagert sich von Kreuzberg ans Tempelhofer Ufer (das Haus fängt immer noch den Blick bei der Einfahrt in den U-Bahnhof Gleisdreieck), schließlich in den strohgedeckten Bauernhof im Friesischen, der als Refugium und selbstverwaltetes Produktionszentrum gedacht war, aber auch das Ende der Scherben in einem Berg von Schulden erlebte. Rund zehn Jahre später, am 20.8.1996, hat dort bekanntlich auch Rio selbst sich vom Leben verabschiedet.

„Rio wollte nach Rio“, orakelt die Stimme aus dem Off, doch was genau ihn in seiner Friesenhöhle so aufgerieben hat („Kreislaufzusammenbruch“?), weiß selbst der Bruder nicht preiszugeben – oder will es nicht. Ein paar Spuren immerhin zeichnen sich ab. In seiner letzten Schaffensphase als „König von Deutschland“ war Reiser, der Barfußprediger, der Mann, der nie so werden wollte wie sein Alter, dann doch zu einer Art père de famille geworden. Er hatte die Genossen von damals ökonomisch abzusichern, und das, obwohl ihm nicht wenige Verrat an der Sache vorwarfen. Sie hätten ihn, der aus Not durch Talkshows und Unterhaltungssendungen tingelte, lieber als kleinen großen Bruder im Gedächtnis behalten. Das Findelkind aus dem Bombentrichter war wohl von zu vielen Ansprüchen adoptiert worden – seine eigenen nicht mitgerechnet.

Eher zur Mythenpflege gehört es, daß der Kunstsender arte seine Pressevorführung in ebenjenem heutigen Künstlerhaus Bethanien veranstaltete, das Rio einst besetzen half. Eine Skinheadband spielte in viel zu schweren Schuhen viel zu gut Scherben-Songs nach. Beim Heraustaumeln war der Mariannenplatz nicht „blau, so viele Bullen war'n da“, wie das Rauch- Haus-Lied es will – es waren genau genommen gar keine Bullen da, bloß ein immer noch eigenartig unkapitalisierter Raum. Rio sei Dank? Immerhin durfte man während der Veranstaltung rauchen. Thomas Groß