Wenn nichts mehr so ist, wie es mal war

■ Krieg, Sarkophag: Bremer Psychologinnen fragen, wie MS-PatientInnen ihre Krankheit deuten

Wie reagieren Betroffene, wenn sie erfahren, daß sie an Mulitipler Sklerose (MS) erkrankt sind? Die beiden Psychologinnen Brigitte Holtkotte und Hedwig Griesehop an der Bremer Uni führten für ihre Diplomarbeit Gespräche mit fünf MS-Erkrankten – drei Frauen und zwei Männern. Sie fragten danach, wie die Krankheit verarbeitet wird und welchen Sinn die Betroffenen ihr verleihen. Dafür erhielten sie jetzt den Forschungspreis der Berliner Stiftung „Lebensnerv“für psychosomatische MS-Forschung. „Wir finden, es wird viel zu aufwendig nach Viren und ähnlichem geforscht. Der psychosomatische Aspekt der Krankheit bleibt dabei auf der Strecke“, begründet Sigrid Arnade von der Stiftung die Entscheidung der Jury.

Multiple Sklerose trifft meist jüngere Menschen – darunter verstärkt Frauen – zwischen 20 und 40 Jahren. Ein Alter, in dem es eigentlich richtig losginge. Die Zeit des ersten Karriereschrittes, der Heirat oder Geburt eines Kindes. Wäre da nicht die bedrohliche Diagnose. „Die die Krankheit greift bei jungen Menschen unmittelbar und brutal in das Leben ein“,sagt Griesehop. 120.000 Menschen sind in Deutschland von MS betroffen, etwa 800 davon im Land Bremen.

Der Verlauf der Krankheit ist sehr unterschiedlich. Während ein Interviewpartner inzwischen an Bett und Rollstuhl gefesselt ist – wie 30% der MS-Erkrankten – leben die anderen vier fast unbehindert zwischen den Krankheitsschüben. Kommt ein Schub, kann er Tage, Wochen oder Monate dauern. Sehstörungen, Taubheit oder Koordinationsprobleme der Arme und Beine sind einige Symptome. Später können die Lähmungen aber wieder völlig oder nur teilweise verschwinden. Mediziner machen für die Schübe Entzündungsherde im Hirn und Rückenmark verantwortlich, die nach ihrer Ausheilung Narben an den Nervenbahnen hinterlassen. Die Narben stören den Informationsfluß der Nerven.Für die Bremer Forscherinnen hingegen stand nicht die Krankheit im Zentrum, sondern die Krankheitsbewältigung.

„Jeder stellt sich natürlich anfangs die Frage: Warum ich?“, sagt Holtkotte. Als Antwort geben die Betroffenen ihrer Krankheit einen Sinn: sie finden Bilder und persönliche Erklärungsmuster. So sei ein junger Student, der während des Golfkrieges zum ersten Mal die Folgen von MS verspürte, quasi im Kriegszustand geblieben. Sein persönlicher Feind ist die Krankheit. Ein anderer hat die ganze Wut über den Ausbruch auf seinen Arzt übertragen und macht ihm Vorwürfen. Der habe ihn ahnungslos in den Kernspintomographen geschoben. „Ich habe mich gefühlt wie in einem Sarkophag“, erzählte er im Interview. An den Bildern „Kriegszustand“und „Sarkophag“hängen die Forscherinnen ihre Interpretation auf: Haß und Wut – in beiden Erzählungen bleibe die Krankheit etwas Fremdes.

„Besser dran sind diejenigen, die es schaffen, die Krankheit mit in ihren Alltag zu nehmen“, meint Griesehop. Das hat Christian Jade geschafft. Beide Frauen berichten übereinstimmend, wie sehr sie die Vitalität des Gesprächspartners beeindruckte, obwohl er wie kein anderer der Interviewten der MS ausgeliefert ist. Denn der 57jährige kann nur noch den Kopf leicht bewegen, der Rest seines Körpers ist gelähmt. Die zunehmende Taubheit des Körpers kam bei ihm schleichend und stetig, ohne Schübe und Rückbildungen.

Trotzdem versucht Jade, den Spielraum der Krankheit einzuschränken. Morgens, wenn er gewaschen und angezogen wird, ist er völlig auf Hilfe von außen angewiesen. Den Rest des Tages will er selbst bestimmen. So bewegt er sich - im Rollstuhl geschoben - von einem Termin zum anderen durch die Stadt. „Ich habe alles im Griff“, sagt er. susa

Weitere Informationen und Hilfe in der MS-Beratungsstelle Bremen, Telephon: 326619. Die Beratungsstelle ist von Montag-Mittwoch von 9-12 Uhr geöffnet, Donnerstags von 15-18 Uhr.