Schicksale einer Protestbewegung

Die Postmoderne hat sich in einen unendlich verfeinerten Skeptizismus verrannt. Der englische Literaturwissenschaftler Terry Eagleton weist ihr nun mit einem ebenso scharfsinnigen wie sozial engagierten Essay den Weg zurück zu den Basics der Moralphilosophie  ■ Von Kersten Knipp

Was tun, wenn mit dem Untergang des Sozialismus auch die letzte weltumspannende politische Utopie von der Erdoberfläche verschwunden ist und die Welt sich auf immer von den großen Heilserwartungen der Vergangenheit verabschiedet hat? Wie den moralischen und politischen Lähmungserscheinungen eines Zeitalters beikommen, das die Gewißheiten der Moderne einem schonungslosen Skeptizismus unterzogen hat und deren Vorstellungen vom guten Leben nur noch als „Erzählungen“, als hinterhältige Verschleierungstaktik für knallhartes machtpolitisches Kalkül glaubt werten zu können?

Derartige Fragen bleiben, falls sie überhaupt gestellt werden, in aller Regel unbeantwortet; und dies, so Terry Eagleton, disputfreudiger Literaturtheoretiker aus Oxford, ist keineswegs eine bloße Laune der jüngsten Kulturgeschichte, sondern zwangsläufiges Schicksal einer Protestbewegung, die der eigenen Dynamik nicht Herr zu werden vermochte: Zwar wirkte die seit den späten 60er Jahren vor allem von französischen Philosophen wie Jacques Derrida und Jean-François Lyotard propagierte Skepsis gegenüber den als nicht mehr tragfähig empfundenen metaphysischen und politischen Konzepten der Moderne zunächst auf die Selbst- und Weltdeutung der Generationen nach 1945 überaus befreiend. Indem sich die postmodernen Vorbehalte gegenüber diesen „großen Erzählungen“ (J.-F. Lyotard) dann aber immer weiter radikalisierten, zogen sie sich selbst den Boden unter den Füßen weg und degradierten mehr und mehr zu einer bloßen sprachlichen Benimmschule.

Dabei gab es, so Eagleton in seinem jetzt auf deutsch erschienenen Essay, für erkenntnistheoretischen Argwohn zunächst gute Gründe: die „logozentristische“ (J. Derrida) Annahme nämlich, es gebe absolute, doch verborgene Wahrheiten, die um des höheren Wohls willen ans Tageslicht gezerrt und vor aller Augen sichtbar gemacht werden müßten, hatte in der Geschichte der Neuzeit von jeher zu Neurosen unterschiedlichster Ausprägung geführt. Aber erst in diesem Jahrhundert wurde das ganze Ausmaß der individuellen und gesellschaftlichen Katastrophen deutlich, zu denen derartige Vermutungen führen konnten.

Während etwa die seit der Erfindung der Psychoanalyse einsetzende obsessive Suche nach einem nicht durch äußere Umstände korrumpierten, leider aber ins Unterbewußte abgerutschten persönlichen Kern noch ins mentalitätsgeschichtliche Kuriositätenkabinett zu reihen ist, hatten entsprechende Anstrengungen auf geschichtsphilosophischem Gebiet erheblich ernstere Folgen: Hier bereitete der jahrhundertealte Mythos vom heilsgeschichtlichen Weltenlauf zumindest den Boden für menschenverachtende Ideologien, die je nach Richtung verschieden besetzt wurden; am verheerendsten waren die von der Vorherrschaft auserwählter Rassen und Klassen.

Eine angemessene Antwort auf die Doktrinen jener Zeit bestand zweifelsohne darin, nicht nur ihre jeweiligen Inhalte, sondern auch die ihnen zugrundeliegenden hermeneutischen Prämissen einer gründlichen Revision zu unterziehen. Und tatsächlich machte der nachdrückliche Verweis auf die artifiziellen Grundlagen jedweden Offenbarungsanspruchs es den ideologischen Marktschreiern aller Couleur nun unmöglich, ihre Produkte als Ausdruck höherer Vorsehung zu verkaufen.

Dann aber setzte sich der postmoderne Skeptizismus in der unausgesetzten Verfeinerung seiner Argumentation sehr schnell selbst dem Verdacht der Dialogunfähigkeit und dogmatischen Erstarrung aus; denn vermag man hinter jedem Ansatz zur Schaffung gesellschaftlicher Ordnung nichts anderes als einen listenreichen Anschlag totalitärer Technokraten auf die irreduzible Vielfalt kultureller Ausdrucksformen zu sehen, so hat man die wohl wichtigste Vorbedingung politischer Urteilskraft verloren: die Fähigkeit zu Differenzierung und Unbefangenheit. So enttäuschte der programmatische Argwohn gegenüber allen Formen konzertierter Politik die in ihn gesetzten Hoffnungen und entpuppte sich statt dessen als eine zwar stumpfe, aber überaus wirksame intellektuelle Vernichtungswaffe: Die Virtuosität nämlich, mit der zahlreiche postmoderne Bedenkenträger jedes Wort von den Grenzen der Freiheit als Zeichen heilloser, niemals genug zu verdammender Rückständigkeit hinstellten, verschüchterte die Empfindsameren unter den Gutwilligen ganz erheblich und unterdrückte politisches Handeln vielfach schon im Ansatz.

Darüber hinaus ermöglichte es den zunehmenden Rückzug aus der Praxis: So stellt das in den 80er und 90er Jahren so beliebte Wort vom flottierenden, niemals endgültig zu erfassenden Sinn jedes Diskurses für Eagleton ein bloßes Alibi für die wortgewaltigen, aber folgenlosen Spiegelfechtereien auf dem Campus dar. Hiervon restlos erschöpft, so sein Vorwurf, bleibt den Helden der Theorie für Auszüge ins Reich der Tat weder Zeit noch Energie.

Eagletons Essay bezieht seine Aktualität vor allem daraus, daß er in einer vom Hierarchieskeptizismus der political correctness geprägten Zeit nicht davor zurückschreckt, sich verblüffend unverkrampft zu einer eindeutigen moralischen Werteordnung zu bekennen. An deren Spitze stehen Normen, die auf den ersten Blick reichlich strapaziert anmuten: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Für ihre Verwirklichung aus mißverstandenen erkenntnistheoretischen Bedenken nicht einzutreten, bedeutet für Eagleton nichts anderes als stummes Einverständnis mit den übelsten Formen sozialer Willkür. Und so besteht der Wert des Buches vor allem darin, daß es, ganz und gar unzeitgemäß, zu einer Rückbesinnung auf Werte aufruft, die angesichts einer hochentwickelten akademischen Theoriebildung lächerlich simpel erscheinen. Den Winkelzügen einer kalt gewordenen Gedankenkunst einen unprätentiösen Aufruf zu einfachem politischen Engagement entgegenzusetzen, ist damit mehr als nur eine Kritik des universitären Mainstreams: Es ist die Rückführung der Theorie auf die Realität der Straße.

Doch trotz seines ernsten Anliegens bietet das Buch nicht zuletzt ein exzellentes Lesevergnügen. Gebildet und scharfsinnig, hält der Autor ein engagiertes, ironiedurchsetztes Plädoyer für das, was man, bei aller Problematik des Wortes, als den gesunden Menschenverstand bezeichnen könnte. Daß dieser zumindest auch der ursprüngliche Kern der postmodernen Logik war, darüber kann und will auch Eagletons Schelte nicht hinwegtäuschen: „Die postmoderne Theorie in ihrer militantesten Erscheinungsform hat sich für die Erniedrigten und Ausgestoßenen eingesetzt, und auf diese Weise die selbstherrliche Identität des Systems bis auf die Grundfesten erschüttert. Und dafür könnte man der Postmoderne fast alle ihre ungeheuerlichen Exzesse vergeben.“ Von diesen, so scheint es, sind die Verfechter des Guten noch ein wenig benommen. Ob sie je wieder nüchtern werden, bleibt abzuwarten.

Terry Eagleton: „Die Illusionen der Postmoderne. Ein Essay“. Aus dem Englischen von Jürgen Pelzer. Verlag J.B. Metzler, Stuttgart/ Weimar, 1997, 186 S., 39,80 DM