Vom Baumwollschaf zur Containerfracht

■ Gezackt wie ein Alpenpanorama: 125 Jahre Bremer Baumwollbörse in einigen Worten und zahlreichen Bildern

Das Diagramm, das die Baumwollpreise an der New Yorker Baumwollbörse im 19. und 20. Jahrhundert verzeichnet, erinnert an ein rauhes, gefährliches Alpenpanorama: verführerisch-steile Bergspitzen und bedrohliche Abgründe in stetem Wechsel. Nicht weniger wankelmütig waren – und sind – die Größenordnungen der Baumwoll-Umsätze in Bremen. Jedes große – und kleine – politische Ereignis, von der Gründung des Deutschen Zollvereins 1833 (u.a. zum Schutz vor britischen „Billig“-Importen), dem Ausbau des Eisenbahnnetzes bis zur Küste (zur besseren Anbindung an die wichtige schlesische Textilindustrie), diverse Währungskrisen, Kursschwankungen und nationale dirigistische Maßnahmen (erst 1993 die Exportsteuer der Türkei, um die Rohstoffversorgung der eigenen Spinnereien zu sichern) bis zum Koreakrieg und der Suezkrise, schlug sich auf die Kennziffern des Bremer Baumwollhandels nieder. Aber auch fragilere Faktoren hinterließen ihren Stempel im schwankenden Gebilde namens Handel. So ließen die Aversionen der Deutschen gegenüber Spekulationsgeschäften erst sehr spät die Einrichtung einer Baumwoll-Terminbörse in Bremen zu. Zunächst ein Standortnachteil gegenüber Liverpool.

Das mit vielen Abbildungen versehene Buch „Eine Baumwollära“gibt einen kurzen Überblick über die wechselvolle, mit Gott und der Welt vernetzte Geschichte des Baumwollhandels in der Hansestadt und der Bremer Baumwollbörse.Denn letztere hatte kürzlich 125. Geburtstag. Autoren dieser Kurzbiographie einer Institution sind deren Öffentlichkeits-arbeiter Hermann Schwarmann und einer ihrer zwei Chefs, Jan Wellmann. Informativ ist das Buch trotzdem.

Baumwolle ist älter als Bremen. Schon 1500 v. Chr. soll sie in Indien angebaut worden sein. In Ulm und in Konstanz hat man sie bereits 1320 versponnen und verwebt. Weil man aber im Mittelalter Stoff nur in Verbindung mit Schafen denken konnte, entwickelten sich dubiose Vorstellungen von der Herkunft der weißen watteartigen Bommeln (siehe Abbildung): Pflanze hin oder her, irgendwas Schafiges darf einfach nicht fehlen!

Nicht zu verdenken, daß es noch eine hübsche Weile dauerte bis zur Industrialisierung der Branche. Aber dann kam alles Schlag auf Schlag: zuerst die Entkörnungsmaschine von Eli Whitney, 1770 die Spinnmaschine von Richard Ark-wright und 1785 der mechanische Webstuhl von Edmund Cartwright.

Der erste verbürgte Ballen Baumwolle strandete 1788 an Bremens Ufer. Die Gründung der Baumwollbörse ist ein Kind des Bösen, ein Produkt des internationalen Wirtschaftskonkurrenzkampfes. Es galt, sich durchzusetzen gegen den übermächtigen Handelsplatz Liverpool, gegen Le Havre und Hamburg.

Der Name Baumwollbörse ist mißverständlich. Die 1872 gegründete Organisation ist keineswegs ein Ort der Preisfindung, sondern einer der Koordinierung gegensätzlicher Interessen. In der Börse waren und sind alle Parteien der Baumwollindustrie zusammengeschlossen: Baumwollhersteller, Textilindustrie, Bankiers, Versicherungen, Speditionen, Reedereien, Makler. Der Verein bestimmte die Handels-Usancen seiner Mitglieder. Selber tätigte er keine Geschäfte.

Für die einbehaltene Gewinnspanne zwischen Kauf und Verkauf bot der Zwischenhandelsplatz Bremen vor allem zweierlei: Sicherheit und Bequemlichkeit. Ein ausdifferziertes Qualitätssicherungskonzept und Beschwerdemöglichkeiten garantierten den Käufern von Rohwolle die georderte Qualität. Feinheit (unter Fachleuten mit dem wonnigen Namen „Micronaire“bedacht), Festigkeit (Pressley), Fadenlänge, Farbe konnten mit immer ausgefeilteren Analysemethoden bestimmt werden. Überdies sorgte Bremen für solide Kreditbedingungen, reibungsfreien Weitertransport und Schutz vor Wechselkursschwankungen.

Mit Hilfe dieses lückenlosen Dienstleistungs-Pakets avancierte Bremen bald nicht nur zum wichtigsten Baumwollimporteur. Die Baumwolle machte 1912 die Hälfte des gesamten bremischen Warenumschlags aus. Eine Schlüsselbranche der Stadt wie heute nur noch das alleinseligmachende Bier.

Doch Erzeuger- und Verarbeitungsländer der Baumwolle wanderten wild in der Weltgeschichte umher. Und Bremen lag nicht immer im Fadenkreuz zwischen Rohstoff und Textilproduktion. Waren viele Jahrzehnte lang die USA der führende Baumwollproduzent, so kommt heute ein Großteil aus den GUS-Staaten und afrikanischen Ländern. Länder wie die Türkei und Indien verarbeiten ihren eigenen Rohstoff selbst: Rohstoffhandel überflüssig! Ein Wust an bi- und multilateralen Verpflichtungen lenkt die Warenströme. Etwa regelt ein Präferenzabkommen der EU, daß in der EU verwebte Stoffe bevorzugt nach Polen, Ungarn und Tschechien zum sogenannten Veredeln (zum Beispiel Färben) gehen und dann wieder zurück ins EU-Land zum Nähen.

Das Importvolumen in Bremen beträgt heute zwischen 0,4 und 1 Mrd Mark. Der Kilopreis für Baumwolle schwankt zwischen zwei und vier Mark. Trotz schwindender Importe spielt Bremen weiterhin eine wichtige Rolle beim Diskutieren von Qualitätsstandards und Handelsmodalitäten.

Heute hat die Baumwollbörse 13 MitarbeiterInnen. Statt über 700 Unternehmen zählt sie nur noch rund 230 als ihre Mitglieder. Die sind jedoch nach wie vor ein repräsentativer Teil des deutschen Baumwollhandels. Ihre Rolle als Informationsbörse und Schlichtungsstelle finanziert sie durch Mitgliedsbeiträge, Arbitrage, Gebühren für Schiedsgerichtsverfahren und Vermietung der einstigen Pracht.

Nur gut, daß der Konsument von den komplizierten und risikoreichen Vorgängen im Hintergrund wenig mitbekommt. Der Preis seiner Bluse ist seit Jahrzehnten – im großen und ganzen – stabil. Trotz Alpenpanorama. bk

„Eine Baumwollepoche – 125 Jahre Bremer Baumwollbörse“, Hausschild Verlag, Bremen, 38 Mark