Vishnu marschiert wieder

Indiens Hindumehrheit hat von den anderen Religionsgruppen gelernt. Jetzt beginnt auch sie sich gegen alles zu wehren, was sie als Mißachtung ihrer eigenen Gemeinschaft empfindet. Ein neuer Fundamentalismus bedroht die Demokratie  ■ Von Salil Triparthi

Während Indien den 50. Jahrestag seiner Unabhängigkeit feiert – und wichtiger noch, den des vielleicht größten Erfolges seiner Nachkriegsgeschichte: das Überleben seiner Demokratie – weht ein neuer Wind des Antiliberalismus durch das Land. Was als milde Brise begann, hat längst Orkanstärke erreicht. Die überwältigende Hindumehrheit des Landes hat beschlossen, sich gegen alle Werke der Kunst und Literatur, Zeitungsartikel, Meinungen und politische Kommentare zu wehren, von denen sie sich mißachtet und beleidigt fühlen.

Diese Entwicklung droht, die alte Toleranztradition des Hinduismus zu untergraben, und Politiker, Akademiker und Journalisten kritisieren ein „kurzschlüssiges, pseudo-säkulares“ Bild von Indien. Sie fordern gleiche Rechte für alle und wehren sich gegen jegliche Sonderrechte für Minderheitengruppen.

Das alles ist in einer Demokratie Teil einer ganz legitimen Diskussion, aber das Recht auf freie Meinungsäußerung ist dabei, auf der Strecke zu bleiben. Mit der Schwächung der Staatsgewalt haben sich selbsternannte Wächter, von Engstirnigkeit und Sektierertum geprägte Gruppen und solche mit Sonderinteressen, zum Richter über Geschmack und Anstand aufgeworfen. Sie haben eine Welle einer an Gruppeninteressen orientierte Zensur erzeugt, die jede freie Diskussion erstickt.

Ironischerweise sind einige der bekanntesten Hinduttva-Vertreter – einer neuen, militanten Version des Hinduismus – inzwischen selbst Opfer dieses Klimas geworden sind. So hat beispielsweise Arun Shourie – einst Anwalt einer bürgerlicher Liberalität, inzwischen Hinduttva-Kolumnist – erfahren müssen, daß Politiker fast aller Parteien (mit einigen löblichen Ausnahmen) seine kritische Biographie des verstorbenen Babasaheb Ambedkar am liebsten verbieten würden; Ambedkar war der Führer der Unberührbaren und wird von vielen Indern als Vater der zeitgenössisch-säkularen, sozialdemokratischen Verfassung Indiens betrachtet.

Jahrelang haben die Hindus des Landes zugesehen, wie andere Gruppierungen nach Verboten riefen: Parsis forderten die Einschwärzung der Fotografie einer zoroastrischen Beerdigung in Dom Moraes „Bombay“; ein „Rat zoroastrischer Wächter“ erhob Einspruch gegen Cyrus Bharuchas Film „On Wings of Fire“, den sie als „widerwärtig“ bezeichneten; Christen protestierten wütend gegen die Bühnenaufführung von „Jesus Christ Superstar“ und stritten im Haus des British Council in Bombay öffentlich mit Melvin Bragg (einem bekannten britischen Schriftsteller und Fernsehmann, der sich in seinen Arbeiten mit Sexualität und Religion beschäftigt; Anm. d. Ü.); die „Katholische Vereinigung“ von Kerala forderte das Verbot von „Ksthuvinde Araam Thirumurivi“, eine Bearbeitung von Nikos Kazantzakis' Theaterstück „Die Sechs Wunden Christi“ in Malayalam. Der bekannteste und schlimmste Fall ist natürlich die Forderung der Muslime nach einem Verbot der „Satanischen Verse“ von Salman Rushdie. (Indien war weltweit das erste Land, das den Roman verbot.) Und der Trend hält an. Im September klagte ein syrisch- christlicher Anwalt vor einem Bezirksgericht in Kerala auf Verbot des Romans „Der Gott der kleinen Dinge“ von Arundhati Roy, Bookerpreisträgerin 1997, weil das Buch Streit zwischen den Kasten säe.

Jetzt schlagen die Hindus, erbost über alles, was sie als Mißachtung ihrer Religion empfinden, in gleicher Weise zurück. Einige regen sich über den Film „Fire“ der kanadisch-indischen Filmemacherin Deepa Mehta auf, weil darin das bisherige Tabuthema lesbischer Liebe nicht nur anhand einer wohlanständigen nordindischen Hindufamilie dargestellt wird, sondern die beiden Hauptfiguren auch noch Radha und Sita heißen – wie die Musterfrauen und Heldinnen der historischen Hinduepen „Mahabharat“ und „Ramayan“. Andere Hindus ärgert der Film „Bandit Queen“ über das Leben Phoolan Devis (einer Banditin die zur Politikerin wurde), weil darin Mitglieder der höheren Hindukasten schlecht abschneiden. Und wieder andere sind wütend über Mira Nairs letzten Film „Kama Sutra“, der angeblich einen Aspekt des alten Indiens auswalzt, der auf den Tempelwänden von Khajuraho (bekannt für ihre Darstellungen erotischer Szenen) oder im privaten Schlafzimmer besser aufgehoben sei. Die Politiker der Shiv Sena empörten sich derart über „pseudo-säkulare“ Journalisten, daß sie Sturmtrupps aussandten, die Räume der Bombayer Tageszeitung Mahanagar zu verwüsten, weil diese immer wieder Enthüllungsgeschichten über ihre Partei gedruckt hatte.

Die Überempfindlichkeit der Hindus ist ein vergleichsweise neues Phänomen und ein Symptom für die Verhältnisse in der größten Demokratie der Welt. Abgesehen von einigen wenigen „vernünftigen“ Restriktionen garantiert die indische Verfassung die Grundrechte auf Leben und Freiheit – und das Recht auf freie Meinungsäußerung. Und mit wenigen Ausnahmen haben die Gerichte meist zugunsten von Künstlern, Schriftstellern, Journalisten und Theatermachern und gegen den Staat entschieden, wenn der ihre Arbeit zu behindern oder verbieten drohte.

Das gehört zu einer festverankerten Tradition der indischen Rechtssprechung: Als Ende der siebziger Jahre die Polizei das Theaterstück „Sakharam Binder“ von Vijay Tendulkar wegen Obszönität zu verbieten versuchte, entschied Richter Madhukar Kania gegen sie. 1982 wollten die Shiv Sena verhindern, daß die Pune Theater Akademie mit ihrem kontroversen Stück „Ghashiram Kotwal“ nach Berlin geht. Das Gericht entschied zugunsten des Stücks mit dem Argument der Kunstfreiheit. Allerdings wurde die Theatertruppe verpflichtet, vor jeder Aufführung im Ausland eine Erklärung zu verlesen, daß es sich bei den dargestellten Vorgängen um eine Fiktion handele – die Gruppe fügte sich.

Als 1988 die beeindruckende Fernsehserie „Tamas“ des Filmemachers Govind Nihalani – nach einem Roman von Bhisham Sahni – über die Gewalttaten im Zuge der Teilung über die Bildschirme gehen sollte, klagte ein muslimischer Geschäftsmann auf Unterlassung; interessanterweise wurde er darin von der Jugendorganisation der Hindupartei Bharatiya unterstützt. Erneut urteilte das Gericht zugunsten des Films.

Während diese liberale Tradition von Judikative und Presse aufrechterhalten werden, hat eine geschwächte Exekutive ihre Autorität mehr und mehr an Gruppierungen mit Sonderinteressen abgetreten, indem sie ihnen gestattete, zu definieren, was öffentlich debattiert werden darf und was nicht. So setzte eine feministische Organisation die Aufnahme einer Bestimmung in die bereits ziemlich restriktiven Richtlinien zur Filmkontrolle durch. Dort heißt es, daß Filme, die Frauen „in ehrloser Unterwürfigkeit zu Männern“ zeigten, verboten werden können. Mindestens ein Film ist bereits an dieser Bestimmung gescheitert.

Auch Rechtsanwälte, die in der Regel für die Meinungsfreiheit einstehen, reagierten empfindlich. In dem Film „New Delhi Times“ sagt ein Redakteur zu seiner Frau: „Alle Anwälte sind Lügner.“ Empörte Anwälte erreichten in den weniger liberalen Bundesstaaten Indiens, daß der Satz herausgeschnitten wurde. Und Polizeibehörden wehrten sich, wenn Filmemacher – nicht ganz zu Unrecht – Polizeibeamte als ständig betrunken, korrupt oder als brutale Sadisten zeigen. Einige solcher Filme, wie Govind Nihalanis „Ardh Satya“ (Halbwahrheiten), sind genau und spannend erzählt – andere, vor allem die Fließbandproduktionen der masala-Filmindustrie aus Bombay, dagegen ohne jeden künstlerischen Wert und ohne gesellschaftliche Relevanz.

Schließlich mischten sich auch Politiker ein und benutzten auf Länderebene die Legislative zur Einschüchterung der Medien. 1987 machte sich P. H. Pandian, damals Sprecher der Tamil-Nadu Legislative in Südindien, eine selten angewendete Bestimmung zur Mißachtung der Legislative zunutze, um den Herausgeber des tamilischen Satiremagazins Ananda Vikatan wegen Veröffentlichung eines Cartoons hinter Gitter zu bringen. Der Cartoon zeigte zwei identisch aussehende Männer, die auf einer Bühne sitzen. Darunter steht: „Welcher von beiden ist Mitglied der MLA (des Parlaments) und wer der Minister?“ – „Der wie ein Taschendieb aussieht, ist Mitglied der MLA; der wie ein Verbrecher aussieht, ist der Minister.“ In seiner Erklärung vor den Mitgliedern der Versammlung war Pandian ungewöhnlich angriffslustig: „Trefft euch nicht mit schmutzigen Journalisten. Ich bin es, der euch schützt. Wir sind keine Engländer, wir sind Tamilen. Wir tragen keine Anzüge, sondern dhotis. Ihr seid vielleicht bereit, euren Ruf einzubüßen, ich bin es nicht.“

In gewissem Sinne zeigte dieser Cartoon das entscheidende Problem Indiens heute: den Kampf zwischen dem „Gentleman“ und dem dhoti-Träger, zwischen dem, der den Regeln englischer Finesse folgen will und dem Straßenkämpfer. Es ist die Spannung zwischen Indien und Hindustan, zwischen Bombay und seiner Reinkarnation als Mumbai. Es ist der Bruch zwischen denen, die nach den Regeln der Verfassung und für sie kämpfen, und denen, die ihre Zeit nicht damit vergeuden wollen, sie überhaupt zu lesen, – oder schlimmer noch, nicht einmal lesen können.

Hier zeigt sich ein neues Indien, in dem Abgeordnete nicht mehr die Rechtsanwälte aus den fünfziger und frühen sechziger Jahren sind, sondern häufig Leute, die schon einmal mit dem Gesetz in Konflikt gekommen sind; Männer, die wenig geneigt sind, sich mit sophistischen Argumenten von der Gegenseite überzeugen zu lassen und sich eher gegenseitig Schimpftiraden – gelegentlich auch Gegenstände – an den Kopf werfen.

Mit Anbruch der zweiten Hälfte der ersten 100 Jahre unabhängige Republik Indien kann diese Auseinandersetzung nur an Schärfe zunehmen. Will Indien nach seiner Verfassung aus den Fünfzigern leben, die eine liberale, säkulare, sozialistische und demokratische Republik geschaffen hat? Oder will es zurückkehren zu einer angeblich ruhmreicheren Vergangenheit?

Für ihre Kritiker ist diese Vergangenheit ein beengender Feudalismus. Für die Anhänger der Zeit des Ram Rajya – der mythischen Regierung des Rama – ist es die Kurzformel für eine Zeit, in der es keine Verbrechen gab, Frieden herrschte und alle Menschen glücklich waren. Immer mehr Hindus sind davon überzeugt, daß sie Ram Rajya wiederherstellen müssen, und ihre atavistische Sehnsucht wird immer offensiver.

In den letzten zehn Jahren sind selbst die Zweifler mutiger geworden. Mit der 1986 ins Leben gerufenen Bewegung, einen Hindutempel zu bauen, wo Rama angeblich geboren wurde, die sechs Jahre später in der Zerstörung der uralten, an diesem Ort stehenden Babri-Moschee, kulminierte, hat sich die politische Landschaft Indiens verändert – und mit ihr die politische Diskussion insgesamt.

Die Truppen der Hinduttva wurden lauter. Und die Regierung der Kongreß-Partei verlor die Wahlen von 1989: Sie hatte ihre Anhänger aus der Mittelklasse durch die Annullierung eines Gerichtsurteils empört, das auch muslimischen Frauen – wie allen anderen Inderinnen – nach einer Scheidung das Recht auf Unterhaltszahlung eingeräumt hatte.

Atemlos folgten Millionen im staatlichen Fernsehen Serien, die auf den alten Mythen „Ramayan“ und „Mahabhara“ basierten und schmückten ihre Autos mit Aufklebern, die flächendeckend den wahren Hinduismus predigen. In Bombay grub man ein Cricketfeld um, um ein Spiel zwischen der indischen und pakistanischen Nationalmannschaft zu verhindern.

Hindus, bewaffnet mit trishuls (Dreizack) und Safranflaggen tragend, marschierten zu lauten Trommelklängen. Der Regisseur Alyque Padamse, der zu dieser Zeit gerade eine Bühnenversion von „Cabaret“ vorbereitete, ließ das Stück mit zwei Kindern in safrangelben Naziuniformen enden, die als Gedankenpolizei die Schuldigen abführen. Die Selbstzensur derer, die in diesem Hindufundamentalismus kritisch gegenüberstehen, war der nächste unvermeidliche Schritt.

Da die Hindumehrheit jede andere Gruppe zahlenmäßig eins zu vier aussticht – und das in einem Land mit fast einer Milliarde Einwohnern –, sind solche Demonstrationen der Stärke gefährlich. Wer soll, wenn Muslime die „Satanischen Verse“ und Christen den „Gott der kleinen Dinge“ verbieten wollten, die Hindus daran hindern, gegen Ambedkars kritische Bestandsaufnahme „Riddles of Hinduism“ anzutreten?

Die Einzelfälle mehren sich und eskalieren zu kollektiven Forderungen, die die Demokratie und Säkularität der Republik bedrohen.

Der Wirtschaftswissenschaftler Amartya unterstreicht die Bedeutung der Demokratie für die Tatsache, daß die Inder seit der Unabhängigkeit zwar nicht reicher geworden, die Armen des Landes aber auch nicht verhungert sind, – ein starkes Argument gegen die bequeme Logik südostasiatischer Herrscher, die überzeugt sind, Hungersnöte nur per Diktatur verhindern zu können. Immerhin ist Indien in diesen 50 Jahren zum Nahrungsmittelexporteur geworden, und das ohne drakonische Maßnahmen wie etwa China anzuwenden. Zwar gibt es Menschenrechtsverletzungen auch in Indien fast täglich, aber Inder können sich dagegen engagieren, ohne dafür ins Gefängnis zu kommen oder lediglich ein Alibi für Menschenrechtsgruppen zu sein. Es gibt keinen indischen Wei Jingsheng und keine indische Aung San Suu Kyi.

Indiens größter Erfolg dieser ersten 50 Jahre liegt in Widerlegung der Argumentation aller Apologeten sogenannter „asiatischer Tugenden“, derzufolge man zuerst reich werden müsse, um demokratisch zu werden, und wohlhabend, um die Rechte des Individuums zu respektieren. Um so bedauerlicher, daß so viele Inder in ihrer Verehrung für Lakshmi, die Hindugöttin des Reichtums, die liberale Verfassung ihres Landes zunehmend für einen Nachteil halten.

Natürlich ist die Wirtschaft nicht im erwünschten Maße gewachsen, und die ökonomische Liberalisierung hat seit 1991 die Ungleichheit verschärft. Das ist der Hintergrund der verlockenden Hiduttva-Logik, die einen für die heutigen Probleme verantwortlichen Außenseiter sucht und einen praktischen Sündenbock im „Feind im Inneren“ gefunden hat: die Muslime, die Indien vor Jahrhunderten besetzt und den Ram Rajya in eine Nation von Almosenempfänger verwandelt hätten.

In dieser Atmosphäre wachsender Hindumilitanz könnte es passieren, daß man zu flüstern beginnt, seine Worte hinunterschluckt und schließlich ganz verstummt. Das wäre für Indien eine große Tragödie. Denn seine Kultur umschloß immer verschiedene Religionen und Philosophien. Rajasthani-Könige holten muslimische Maler an ihre Höfe, die den „Ramayan“ illustrierten; Schah Jehan beauftragte Hinduhandwerker mit dem Bau des Taj Mahal. Und Husains Bild einer nackten Saraswati kann in einer Gesellschaft mit einer 3.000jährigen Tradition erotischer Darstellung nackter Götter und Göttinnen kaum jemanden beleidigen.

Vielleicht ist es tatsächlich an der Zeit, diese ruhmreiche Vergangenheit wiederzuentdecken, in der die Künste blühten und Künstler sich nicht vor dem Mob verstecken mußten und in der, wie der Dichter Rabindranath Tagore schrieb, „das Denken ohne Furcht und der Kopf erhoben ist“.

Salil Triparthi arbeitete viele Jahre als Korrespondent für die Tageszeitung India Today. Heute ist er Wirtschaftskorrespondent der Far Eastern Economic Review.