Das Erbe der Gewalt

Selbst nach 50 Jahren wirken die Schrecken der Teilung von Indien in Pakistan noch nach. Ihre Aufarbeitung bleibt allerdings reglementiert  ■ Von Furrukh Khan

Mehr als Unabhängigkeit ist Teilung das Schlüsselwort der modernen Geschichte des indischen Subkontinents. Der blutige Preis, den Muslime, Hindus und Sikhs für die Freiheit gezahlt haben, wird größtenteils weiterhin verdrängt – obwohl die Teilung als prägendes Ereignis die sozialen und politischen Strategien sowohl Indiens als auch Pakistans bis heute dominiert.

Kurz nach der öffentlichen Bekanntgabe der Unabhängigkeit – und der Teilung – nahmen die weitverbreiteten einzelnen religiös-ethnischen Konflikte bedrohliche Formen an. Gemeinschaftlich begangene Gewaltakte, die es in Indien bis dahin nicht gegeben hatte, wurden entfesselt, um ethnische Säuberungen in den beiden neu entstandenen Nationalstaaten zu beschleunigen.

Innerhalb weniger Monate nach der Unabhängigkeitserklärung Pakistans fand die größte Massenmigration in der Geschichte der Menschheit statt. Manche Schätzungen sprechen von über 16 Millionen Menschen, die über die neu geschaffenen Grenzen gingen; über eine Million Menschen kamen dabei ums Leben.

Demütigung und entwürdigende Behandlung der abwandernden Bevölkerungsteile, besonders der Frauen, wurden alltäglich. Bis dahin hatte ihre physische Unversehrtheit Würde, Reinheit und Ehre der Gemeinschaften markiert. Jetzt aber waren zwei bis dahin eng miteinander verflochtene Ethnien an der Trennungslinie ihrer Religion zu zwei separaten Nationen erklärt worden – die Entehrung der Frauen der „anderen“ wurde damit zu einem Akt der Verteidigung der eigenen nationalen Ehre. Die Narben, die diese zahllosen Akte sexueller Gewalt gegen die Frauen hinterlassen haben, werden jedoch bis heute von beiden Seiten in der Regel ignoriert.

Das liegt nicht etwa in einem verständlichen Abscheu vor den Barbareien in dieser Zeit, sondern daran, daß die Massenvergewaltigungen und Verschleppungen, die öffentlichen Demütigungen und Morde nicht etwa, wie meist angenommen, von kleinen kriminellen Banden verübt wurden. Vielmehr waren sie, wie Augenzeugen berichten, das Werk ganz gewöhnlicher Männer, die inzwischen längst wieder in das normale bürgerliche Leben ihrer Gemeinden integriert sind. Zwar traf die Gewalt Männer wie Frauen gleichermaßen, aber auf beiden Seiten des sich öffnenden Abgrunds zwischen Hindus und Sikhs auf der einen und Muslimen auf der anderen Seite waren doch besonders die Frauen das Angriffsziel.

Im Kampf für die Unabhängigkeit von Großbritannien war Indien als Göttin, als „Mutter Indien“ stilisiert worden, deren Volk erhalten und endlich vom fremden Joch befreit werden müsse. Solche und ähnliche Konstruktionen hatten die Metapher von der „reinen Frau“ in den Mittelpunkt der nationalen Rhetorik gestellt. Mit der Teilung Indiens spaltete sich auch die Rhetorik von der Ehre der „Mutter Indien“, die sich jetzt nach innen und gegeneinander als „die anderen“ wendete.

Über 100.000 Frauen wurden verschleppt oder gewaltsam aus ihren bereits auf der Flucht befindlichen Familien herausgerissen. Es gibt Hunderte von Augenzeugenberichten, die von Massenvergewaltigungen und Morden an Frauen berichten. Es kam häufig vor, besonders bei den Sikhs, daß die Männer der Familie aus Angst vor der „Entehrung“ ihrer Frauen und Kinder durch muslimische Männer sie lieber „zu Märtyrerinnen machten“, d.h. sie selbst töteten. Nicht selten wurden die verschleppten Frauen „des Feindes“ vor ihrer Ermordung geschoren und öffentlich nackt vorgeführt, wie beispielsweise über 100 muslimische Frauen im Goldenen Tempel von Amritsar (Punjab), dem heiligsten Ort der Sikhs.

Wie auch bei den Angriffen der Serben und Kroaten auf die muslimische Bevölkerung des früheren Jugoslawiens zu beobachten war, sollten solche Vergehen über den direkten Angriff hinaus den Bruch der sozialen und familiären Strukturen der Opfer bewirken, der über das eigentliche Verbrechen an der einzelnen Frau weit hinausreichte. Augenzeugen berichten, daß die Täter ihre Opfer während der Folterungen und Vergewaltigungen damit verhöhnten, daß ihre Männer sie offenbar nicht verteidigten – und damit die Männlichkeit oder Menschlichkeit der Männer ihrer Familie und die ihrer ethnischen Gruppe in Frage stellten. Der öffentliche und besonders brutale Charakter solcher Demütigungen ließ die Opfer, sowohl Frauen als auch Männer, aus Scham oft verstummen.

Doch das zerstörerischste und weitreichendste Ziel solcher systematischen Angriffe auf die Frauen der „anderen“ war, so viele wie möglich zu schwängern und damit den Mythos von der Reinheit ihrer Gruppe zu zerstören. Bei ihrer Rückkehr mußten die wenigen Frauen, die die Torturen überlebt hatten und ihren Folterern entkommen waren, dann häufig ein zweites Mal leiden. Stigmatisiert als gefallene Frauen wurden sie nicht selten von ihren Familien verstoßen; andere mußten fortan mit der „Schande der Entehrung“ leben.

Der pakistanische Staat hat den Widerstand der Gesellschaft, sich mit den beschämenden Ereignissen der Vergangenheit auseinanderzusetzen, bis zum heutigen Tage immer wieder bestärkt. Direkt nach dem Trauma der Massenmigration ergingen Appelle an die Bevölkerung, nun alle Energie in den Aufbau eines neuen, unabhängigen Pakistan zu stecken. Alles, was von diesem zentralen Ziel abzulenken drohte, war äußerst ungern gesehen und wurde unterbunden. So wurde auch jede Diskussion über die erlittenen Qualen der Frauen unterdrückt. Im Lauf der Zeit hat sich so in der gesamten Gesellschaft eine Resistenz – und Unfähigkeit – entwickelt, über den kollektiven Schmerz der Frauen zu sprechen.

Selbst nach 50 Jahren wirkt das schmerzliche Erbe der Teilung in Pakistan immer noch nach. Eine Regierung nach der anderen, allesamt dominiert von den feudalen patriarchalischen Strukturen des Landes, schien offenbar zu glauben, daß etwas, worüber nicht öffentlich gesprochen wird, einfach verschwindet.

Aber auch die pakistanische Gesellschaft insgesamt hat offenbar die Entehrung der pakistanischen Frauen mit der „Entehrung der Nation“ identifiziert und sich deshalb geweigert, sich mit seiner schwierigen und schmerzhaften Vergangenheit zu konfrontieren. Genau so, möchte man meinen, haben es sich die Täter vorgestellt. Eine Konsequenz aus dieser Verdrängung ist, daß zunehmend mehr Männer, die sich – öffentlich oder im eigenen Heim – Gewalttaten gegen Frauen schuldig gemacht haben, immer öfter mit Straffreiheit rechnen können. Pakistanische Frauen sind heute gefährdeter als je zuvor in der kurzen Geschichte ihres Landes. Und jetzt droht ihnen Gefahr nicht von den Männern eines anderen Stammes, Landes oder einer anderen Religion, sondern aus der eigenen Familie.

Immer mehr wird häusliche Gewalt von Männern erfolgreich dazu eingesetzt, jeden Versuch von Frauen, eine andere als die ihnen von den Männern der Familie zugewiesene Rolle oder Identität anzunehmen, zu unterdrücken. Die beschränkten gesellschaftlichen Zuschreibungen als Mütter, Schwestern oder Ehefrauen sind bindend. Fast einhellig wird ihnen von Familie, Gesellschaft und Staat jede sexuelle oder individuelle Identität verwehrt.

Die alles durchdringende, staatlich „gereinigte“ Version der Vergangenheit hat das ganze Land mit der Krankheit des selektiven Gedächtnisses angesteckt. Zwar darf an die Rolle der Frauen, ihre Opfer und Leiden in der Vergangenheit – in Maßen – noch erinnert werden, über ihre Erfahrung in der Gegenwart dürfen sie damit noch lange nicht sprechen.

Der Ungeist der Vergangenheit ist nicht exorziert worden und manifestiert sich heute in vielen Formen der Gewalt.

Zur Feier seines fünfzigsten Geburtstages untergräbt sich das Land weiterhin selbst: sowohl durch die Gewalt gegen die Frauen als auch durch neue ethnische und religiöse Fanatismen. Beides könnte Pakistan noch einmal in den Abgrund stürzen.

Furrukh Khan ist Doktorand an der Universität Kent