Gebärt und seht zu, wie ihr klarkommt

■ Über den Schutz werdenden und seienden Lebens. Familienministerin Nolte will mehr Kinder und weniger Abtreibungen. Wohlfahrtsverbände konstatieren: Kinder heute „Armutsrisiko Nummer eins“

Berlin (taz) – Sollte die Zahl der Abtreibungen in Deutschland nicht zurückgehen, müsse das neue Abtreibungsgesetz verändert werden, findet Bundesfamilienministerin Claudia Nolte (CDU). Das Bundesverfassungsgericht habe in seinem Urteil zum Paragraph 218 dem Gesetzgeber auferlegt, die Wirkung des seit Oktober 1995 geltenden Gesetzes anhand der absoluten Zahlen und relativen Quoten in der Abtreibungsstatistik zu überprüfen. Nolte mußte jedoch einräumen, daß die neue Entwicklung aufgrund veränderter statistischer Erfassung derzeit noch nicht beurteilt werden könne.

Im Jahre 1995 wurden bundesweit 97.937 Abtreibungen statistisch erfaßt, 1996 waren es 130.899. Diese Steigerung der absoluten Zahlen um 33 Prozent ist im wesentlichen auf einen Rückgang der Dunkelziffer zurückzuführen: Abtreibende Ärzte halten sich inzwischen viel strikter an die Meldepflicht. In Relation zu den Geburtenzahlen ging die Zahl der Abtreibungen sogar zurück: Im ersten Halbjahr 1996 kamen durchschnittlich 177 Schwangerschaftsabbrüche auf 1.000 Tot- und Lebendgeburten, im ersten Halbjahr 1997 betrug diese Quote nur noch 168. Aufgeteilt zwischen Ost- und Westdeutschland ergaben sich dabei deutliche Unterschiede: Im Osten lag die Quote 1996 bei 356, im Westen bei 143.

Zwei Unionsabgeordnete schlossen sich dem Vorstoß Claudia Noltes an und plädierten für eine Verschärfung des Abtreibungsgesetzes, das nach langen Querelen 1994 mittels eines überparteilichen Gruppenantrags vom Bundestag verabschiedet worden war. Der CSU-Bundestagsabgeordnete Johannes Singhammer befand: „Der Zeitraum, bis zu dem eine Abtreibung möglich ist, muß verkürzt werden.“ Sein Kollege Hubert Hüppe von der CDU ergänzte, die medizinischen Indikationen für einen Abbruch „müssen enger gefaßt werden.“

97 Prozent der legalen Abbrüche gehen auf die Beratungsregelung zurück. 3 Prozent erfolgen nach medizinischen oder kriminologischen Indikationen.

Als „hochproblematisch“ wertete die Bundesfrauenministerin die Tatsache, daß mehr als die Hälfte aller Abtreibungen, 52 Prozent, in Ehen und Familien stattfänden. „Es darf nicht sein, daß Abtreibung ein Mittel der Familienplanung wird“, so Nolte.

Kinderreichtum ist nach Überzeugung der Nationalen Armutskonferenz, eines Zusammenschlusses der freien Wohlfahrtsverbände, neben der Arbeitslosigkeit in Deutschland das „Armutsrisiko Nummer eins“. Besonders betroffen sind Alleinerziehende: Mütter oder Väter von drei oder mehr Kindern hätten kaum Möglichkeiten, durch Erwerbsarbeit aus eigener Kraft der Armut zu entkommen. Jeder zweite dieser Haushalte ist auf Sozialhilfe angewiesen. Über eine Million Kinder und Jugendliche leben inzwischen von der Sozialhilfe. Laut Statistischem Bundesamt sind von den insgesamt rund 2,7 Millionen Sozialhilfeempfängern knapp 40 Prozent Minderjährige. Ihre Zahl vergrößerte sich allein von Ende 1994 bis Ende 1995 um 10,5 Prozent.

Die Bundesregierung treibe Familien immer mehr in die Armut, kritisierte Ulla Schmidt, frauenpolitische Sprecherin der SPD-Fraktion in Bonn. Auf den Prüfstand gehöre nicht der neue Paragraph 218, sondern die Familienpolitik von Claudia Nolte. Wenn die Ministerin wenigstens versuchen würde, die neuesten Kürzungen rückgängig zu machen, „dann wäre sie auch glaubwürdig, wenn es um den Schutz werdenden Lebens geht“.

Der Deutsche Kinderschutzbund wies darauf hin, daß auch in Deutschland viele Kinder inzwischen unterernährt seien oder wegen schlechter Ernährung krank würden. Für ausgewogenes Essen fehle in den Familien häufig das Geld. Nach einer Studie des Bielefelder Jugendforschers Klaus Hurrelmann fühlen sich 47 Prozent der Kinder aus der reichsten Schicht „rundherum gesund“; in der ärmsten Schicht gaben nur noch 21 Prozent Wohlbefinden zu Protokoll. Ute Scheub