Betr.: Der Fotograf Russel Liebman in Tschetschenien

Die Vorbereitungen dauerten vier Tage. Dann hatte Russel Liebman die erforderlichen Genehmigungen und Formulare der Moskauer Behörden beisammen und konnte sich auf den Weg nach Tschetschenien machen. Zuerst flog er mit einer Militärmaschine nach Mineral'nye Vody, dem Grosny nächst gelegenen Flughafen auf russischem Gebiet. Dann ging es weiter nach Pyatigorsk, wo die Hilfsorganisation Médecins sans frontières einen Anlaufpunkt unterhielt. Die letzten 200 Kilometer fuhr Liebman mit dem Taxi.

Im Dezember 1994 waren Truppen der russischen Föderation in dem ehemaligen Teilstaat der UdSSR einmarschiert. Als Russel Liebman im Juli 1995 in Tschetschenien ankam, waren große Teile des Landes zerstört, die Hauptstadt Grosny, von russischen Militärs umstellt und kontrolliert, lag in Schutt und Asche. Die Bewohner Grosnys mußten sich als „Flüchtlinge in ihrer eigenen Stadt“ (Liebman) in den Ruinen arrangieren. Das Bild, das Liebman an der provisorischen Imbißbude auf dem Marktplatz von Grosny machte, ist daher auch „kein Flucht-Bild im engeren Sinn. Ich wollte sehen, was die Menschen dort, wo der eigentliche Krieg fast vorüber war, nun für ein Leben führen.“ Liebman war damals schon den halben Tag am Marktplatz auf Motivsuche, als ihn ein nachvollziehbares menschliches Bedürfnis überkam: Es knurrte ihm der Magen. Er setzte sich an einen Tisch vor einem einfachen, aus Eisenstangen und Zeltplanen errichteten Stand am Rande des Platzes. Während er auf sein Essen wartete (“das beste Schaschlik, das ich je gegessen habe“), hatte Liebman plötzlich (“reiner Zufall, das Glück des Moments“) das Bild von den zwei Essern am Nebentisch vor Augen.

Seine Reise führte Russel Liebman nicht nur nach Grosny. Er besuchte auch die umliegenden Lager des russischen Militärs – was ihm unter anderem die freundschaftliche Begegnung mit übermütigen Soldaten, eine Mitfahrgelegenheit in einem Panzer und anschließende Verköstung mit „schrecklichem, selbstgebrannten Wodka“ einbrachte. Doch die wirklichen Abenteuer erlebte er woanders. Liebman war gerade im Stadtzentrum von Grosny zu Fuß unterwegs, da löste sich von einem Gebäude in unmittelbarer Nähe ein Stück Fassade. Da war es wieder, das Glück des Moments: Die eineinhalb Stockwerke Hochhaus fielen auf die gegenüberliegende Straßenseite.