Die Scham der Bankrotteure

Nackte Knie, Glatze und schluchzende Präsidenten: Die Demutshaltungen nach dem finanziellen Zusammenbruch und ihre Beziehungen zur Globalisierung. Die Manager des Wertpapierhauses Yamaichi, Jürgen Schneider und Nick Leeson im Kulturvergleich  ■ Von Harry Nutt

Die japanische Finanzwelt, die man sich eben noch als kaltes, regungsloses Funktionssystem dachte, verblüffte kürzlich durch einen Akt der Rührung. Shohei Nozawa, Präsident des Wertpapierhauses Yamaichi Securities, trat nach dem Eingeständnis des Bankrotts vor die Öffentlichkeit und verbarg sein Gesicht tief schluchzend in seinen Handflächen. Eine devotere Geste scheint es in der Körpersprache der asiatischen Welt kaum zu geben. Herr Nozawa bat nicht um Entschuldigung – dieser Berg von Schulden, den er durch die Pleite seines Hauses aufgetürmt hatte, ist buchstäblich nicht zu entschulden: Herr Nozawa trat hervor und schämte sich.

Öffentliches Schämen ist keine Erfindung des Medienzeitalters. Schon am mittelalterlichen Schandpfahl, dem Pranger, wurde dem verurteilten Übeltäter vor allen die Ehre entzogen. Jeder sollte sehen, daß da einer nach Auffassung der Obrigkeit Unrecht getan hatte. Der Angeprangerte war mitunter nicht nur den Blicken der Passanten ausgesetzt. Man durfte ihn beschimpfen und bespucken. Diese Methode ist durch die Entwicklung der Medien allenfalls verfeinert worden. Zur erzwungenen Scham traten schließlich auch zahlreiche Strategien der Beschämung. Gut möglich, daß das Fernsehen auch zu deren Verfeinerung einiges beigetragen hat. In diesem Zusammenhang darf man wohl auch Günter Grass sehen, als er sich anläßlich der Verleihung des Friedenspreises an Yașar Kemal gleich für sein Land an den komfortablen Pranger der Öffentlichkeit stellte. Selbstbezichtigung als raffinierte Form einer Anklage.

Innere Scham teilt sich hingegen nicht in Worten mit, sie zeigt sich: in den meisten Fällen als Erröten. Wer sich schämt, erfährt einen Achtungsverlust an sich selbst. Selbstachtung, so der Marburger Soziologe Sighard Neckel, ist ein Bestreben, das die Person dem eigenen Ich gegenüber hat. „Im Schamgefühl materialisiert sich der Mangel an Achtung am eigenen Körper und in der inneren Selbstwahrnehmung.“ Wer sich schämen muß, macht die bittere Erfahrung, daß sich ihm die innere Wertschätzung entzieht. Man fühlt sich nicht wohl in seiner Haut.

In der Finanzwelt hat man Schamgefühle bislang eher nicht verortet. Im Gegenteil. Die Steuerung der gewaltigen Geldströme wird meistens in Kältemetaphern beschrieben, und vom Börsengeschehen berichtet man wie von bevorstehenden Naturkatastrophen. Keine Zeit für Emotionen. Wirtschaftsakteure denkt man sich als skrupellose Regler, denen menschliche Regungen weitgehend fremd zu sein scheinen. Der abgebrühte Finanzjongleur muß seine Aktionen so weit unter Kontrolle haben, daß er nichts fallenläßt. Im amerikanischen Kino wurde der Typ des narzißtischen Wirtschaftsfunktionärs mit kaltem Blick wiederholt von Michael Douglas verkörpert. Der Verlust der Selbstachtung scheint in diesem Typ nicht angelegt. In dem neuesten Film mit Douglas, David Finchers „The Game“, beginnt dieser Typus jedoch aus der Fassung zu geraten. Das global playing des Casino-Kapitalismus gilt ja gerade deshalb als verfemt, weil jenseits des sozialen Kontexts nur gilt: Nach dem Spiel ist vor dem Spiel.

Herr Nozawas tiefe Verbeugung hat unterdessen den Blick auf die unterschiedlichen Bankrottmentalitäten gelenkt. In Deutschland ist es schwieriger als beispielsweise in den USA, nach einer Geschäftspleite einfach wieder von vorn anzufangen. Im Land des „New Deal“ werden die Karten nun einmal häufiger gemischt. Das amerikanische Steuersystem und Meldegesetze tragen ihren Teil dazu bei. Doch auch hierzulande zieht der Unternehmensbankrott längst nicht mehr zwangsläufig den Selbstmord als äußerste Reaktion auf den erlittenen Ehrverlust nach sich. Wie zu beinahe alle Varianten des sozialen Versagens, so beginnt nun auch das Wirtschaftsleben entsprechende Therapieangebote zu entwickeln. In Berlin haben sich gestandene Pleitiers, mehr als 500 an der Zahl, zu dem Verein „Ausweg e.V.“ zusammengeschlossen. Nach dem Prinzip der Selbsthilfegruppe versucht man den Folgen des finanziellen Fiaskos beizukommen. Wie der Alkoholiker zu seiner Sucht, muß sich der Bankrotteur zu seiner Pleite bekennen, ehe ihm Hilfe zuteil werden kann. Ob „Ausweg e.V.“ auch Jürgen Schneider aufnehmen würde?

Der hatte sich nach seiner grandiosen Pleite zunächst keineswegs öffentlich zu seinem Finanzgebaren bekannt, sondern getan, was Pleitiers schon seit Jahrhunderten tun: Er war erst einmal abgehauen. Das Wort Pleite bedeutet genau dies. Es verweist unmittelbar auf den plötzlichen Entzug vor drohender Strafe. Im Rotwelsch bezeichnet es Zahlungsunfähigkeit, Reinfall und Bankrott. Es geht zurück auf das hebräische pleta (jiddisch: pleto), das mit Flucht und Entrinnen zu übersetzen ist. Die Bedeutungsentwicklung von der Pleite zum Bankrott, heißt es im etymologischen Duden, hat ihren Grund darin, daß sich der zahlungsunfähige Schuldner von seinen Gläubigern nur noch durch Untertauchen retten konnte.

Schneiders Flucht nach Florida war einerseits durch die Angst vor Strafe motiviert. Bei einem eitlen Mann wie ihm war sie aber wohl nicht zuletzt auch die Vermeidung von Scham. Um so bemerkenswerter war Schneiders äußere Erscheinung bei seiner Verhaftung. Der Toupetträger, der stets im feinen Zweireiher daherkam, trat als tapsiger Tourist auf und zeigte die nackte Stirn, die er dem staunenden Publikum dann auch zum Prozeßbeginn wieder bot. Die nackte Haut als Geste der Scham war mehr als bloß Strategie. Die Pleite ist zweifelsfrei eine biographische Zäsur.

Nicholas Leeson, der die traditionsreiche britische Barings-Bank mit nichtautorisierten Future- Kontrakten von Singapur aus in den Ruin getrieben hatte, trug Shorts, als er am 2. März 1995 auf dem Frankfurter Flughafen festgenommen wurde. Seine Frau hatte ihn zwar darauf hingewiesen, daß es in Frankfurt kalt sein würde, doch den Wechsel in eine andere Klimazone hatte er trotzig ignoriert. Weil er fror, gestattete ihm die Frankfurter Polizei, sich umzuziehen, so daß er auf den Fotos, die ihn unmittelbar nach der Festnahme zeigen, in Jeans, weißem Oberhemd und englischen Schuhen zu sehen ist. Die Bilder erwecken ein wenig den Anschein, als sei hier der Ankunft eines berühmten Popstars entgegenzusehen. Das bescheidene, keineswegs devote Auftreten Leesons überraschte dann doch: der rücksichtslose global player als freundlicher junger Mann. Als einzige Geste der Reue mag man die Tatsache ansehen, daß Leeson mit nackten Knien in Europa ankam, wo er auf eine mildere Bestrafung hoffte, als er sie in einem Land des asiatischen Autoritarismus erwarten mußte.

Das Zeigen des Gesichts wie der nackten Haut ist in den verschiedenen Kulturkreisen unterschiedlich codiert. Das zeigt schon ein deutsch-japanischer Kulturvergleich, den vor einigen Jahren die Zeitschrift Der Alltag (Nr.1/89) anhand einiger Zeitungsausschnitte vorgenommen hatte. In pornographischen Heften mit privaten Bildanzeigen bietet man hierzulande freizügig seine üppigen Geschlechtsteile per Chiffre zum Gebrauch an, macht dabei aber, aus Furcht von Nachbarn oder Berufskollegen erkannt zu werden, das Gesicht durch schwarze Balken etc. unkenntlich. Die japanischen Pendants dieser kleinen Untersuchung gingen umgekehrt vor. Aufgrund der japanischen Zensurbestimmungen werden die Geschlechtsteile durch Aufkleber, Retusche und Kratzer verdeckt. Durch diese Eingriffe wird kurioserweise das Gesicht der Modelle zum sexuellen Reizgeber.

Um so beeindruckender erscheint die Tatsache, daß Herr Nozawa es für nötig befand, sein Gesicht zu verbergen. Andere Länder, andere Gesten. Von Bedeutung ist das Gemeinsame. Die zarten Gesten der Bankrotteure legen nahe, daß sich das globale Wirtschaftssystem keineswegs seiner Emotionen entledigt hat. Das Geld – und seine verschiedenen Formen der Verwandlung in fiktives Kapital – wird seinen analen Charakter, auf den bereits Freud mit seiner berühmten Gleichung Geld = Kot hingewiesen hatte, nicht los. Die Ökonomie, so die Annahme Freuds, basiert auf dem allerersten Tauschgeschäft Muttermilch gegen Kot. Der Casino-Kapitalismus will die unendliche Verlängerung dieses Tauschs und basiert auf der narzißtischen Phantasie, daß er unabhängig von realen Gegebenheiten funktioniere. Der Bankrotteur ist so gesehen nicht bloß ein tragisch Verlierender. Er übt sich auch in der Kunst des Scheiterns. Ihm kommt die besondere Rolle zu, den Zusammenbruch der narzißtischen Omnipotenzphantasien am eigenen Leib zu erleben. Eine Flucht kommt für ihn in den Zeiten der Globalisierung immer weniger in Frage. Um so genauer sollten wir seine Regungen in den Blick nehmen.