Jede Mark ist eine Mark zuviel!

■ Im Streit um Rentenzahlungen für osteuropäische Holocaust-Überlebende bleibt die Bundesregierung stur. Die Kommission, in der sie mit der Jewish Claims Conference verhandelt, steht kurz vor dem Eklat

Berlin (taz) – In neunzig Tagen werde es eine Vereinbarung geben, hatte Kanzleramtsminister Friedrich Bohl im August versprochen. Die Frist ist vorbei, eine Übereinkunft für Entschädigungszahlungen oder gar Renten für die Holocaust- Überlebenden in Osteuropa aber gibt es nicht.

„Die Beamten haben uns deutlich zu verstehen gegeben: Jede Mark ist eine Mark zuviel“, heißt es aus Kreisen der Teilnehmer von Arbeitstreffen der sogenannten Bohl-Singer-Kommission. Die Kommission verhandelt seit August unter anderem über die Forderung der Jewish Claims Conference, auch osteuropäische NS-Opfer durch Rentenzahlungen zu entschädigen.

Jetzt stehen die Gespräche zwischen der Bundesregierung und der Jewish Claims Conference (JCC) vor dem Eklat. Am Dienstag abend wiederholten die Bonner Vertreter in der Kommission (benannt nach den Unterhändlern Bohl und dem Vizepräsidenten der JCC, Israel Singer) stur die Einwände gegen die Zahlung von Renten an die osteuropäischen Juden. Die Vertreter der Claims Conference saßen fassungslos am Verhandlungstisch. Sie waren nahe daran, ihn zu verlassen.

„Vielleicht waren unsere Erwartungen zu hoch gesteckt“, sagt ein Teilnehmer, „aber wir haben uns schlicht verarscht gefühlt.“ Man habe sich zwar darauf geeinigt, daß 17.000 bis 20.000 Schwerstverfolgte rentenberechtigt sein könnten – falls eine Opferrente eingeführt wird. Aber an eben dieser Frage scheiden sich nach wie vor die Geister. Über die Höhe von Zahlungen sei erst gar nicht gesprochen worden.

Die Vertreter der Jewish Claims Conference waren fest davon ausgegangen, daß noch in diesem Monat eine Entscheidung zugunsten individueller Hilfe falle. Darauf habe man sich mit Bonn verständigt. Am Dienstag mußten die Vertreter der jüdischen Interessen jedoch hören, daß noch immer Bedenken gegen die individuellen Rentenzahlungen bestünden: Wenn man sich darauf einigte, würden auch die nichtjüdischen KZ-Überlebenden Forderungen stellen. Deshalb könne man auch den jüdischen Überlebenden nichts zahlen.

„Ich habe den Eindruck, das Bundesfinanzministerium hat Angst, daß riesige Menschenmengen vor der Tür stehen könnten, davon sind diese Gespräche geprägt“, beurteilt Lothar Ewers vom Bundesverband Information und Beratungen NS-Verfolgter. „Bisher liegt kein Vorschlag auf dem Tisch“, so Ewers weiter, „hoffentlich zaubern Singer und Bohl nicht irgendwann eine völlig demütigende Summe aus dem Hut.“

Der Skandal setzt sich fort. Seit Jahren warten osteuropäische Juden, die die Konzentrationslager überlebt haben, auf eine Rente. Während bis vor kurzem selbst SS- Männer in den baltischen Staaten mit stattlichen Renten leben konnten, sind ihre Opfer von der individuellen Hilfe ausgeschlossen. Nach der Härtefallregelung, zu der sich die Bundesregierung 1992 gegenüber der Jewish Claims Conference verpflichtet hatte, werden nur Juden in Westeuropa, in den USA oder in Israel aus dem sogenannten „Artikel-2-Fonds“ finanziert. Die Bundesregierung hatte bislang auf ihrer Rechtsposition beharrt, daß die osteuropäischen Opfer keinen Anspruch auf individuelle Entschädigung hätten. Man habe schließlich Globalabkommen mit den jeweiligen Regierungen geschlossen und damit Einmalzahlungen an Opfer ermöglicht.

Die Bundesregierung hatte sich nur auf außenpolitischen Druck hin an den Verhandlungstisch begeben: Im Mai dieses Jahres hatte das American Jewish Committee in der New York Times eine Anzeige geschaltet, in der ein Überlebender eines Nazi-Ghettos und ein Veteran der Waffen-SS abgebildet waren. Überschrift: „Raten Sie mal, welcher eine Rente bekommt?“ Im August hatten dann 82 US- Senatoren einen offenen Brief an den Bundeskanzler geschickt. Darin drückten sie ihre „tiefe Sorge“ über die Weigerung der Bundesregierung aus, den NS-Opfern in Osteuropa Renten zu zahlen.

Doch schon zu Beginn der Arbeitsgespräche hatte Bohl zu verstehen gegeben, daß er die individuellen Rentenzahlungen ablehnt. Gestern sagte ein Sprecher des Kanzleramts der taz: „Auf der Arbeitsebene haben wir ein Ergebnis, die Beratungen sind soweit zu Ende. Jetzt müssen die politischen Entscheidungen fallen.“ Dies könne voraussichtlich noch vor Weihnachten geschehen.

Ein Teilnehmer der Verhandlungen ist erheblich skeptischer. „Vielleicht sind sich die politischen Entscheidungsträger ihrer Verantwortung bewußter als die derzeit agierenden Beamten. Aber bestimmt werden auch im Dezember die Fronten aufeinanderknallen.“ Barbara Junge

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