X-Large trifft Crèmeschnittchen

■ Innenansichten aus dem deutschen Konzertleben: Auf Tournee mit dem Alt-Rocker Udo Lindenberg lernten die Bremer HipHopperinnen „Mutlu“das Musikbusiness und das Rock'n'Roll-Leben im Schnellverfahren kennen

„Mutlu“sind wieder zu Hause in Blumenthal. Einen Monat lang waren die Schwestern Derya und Sema, die unter ihrem türkischen Familiennamen deutschsprachigen HipHop machen, mit Panik-Fossil Udo Lindenberg samt Sinfonieorchester auf ausgedehnter Tournee durch deutsche Opern- und Schauspielhäuser.

Daheim mußten sie sich erstmal wieder akklimatisieren. „Als wir zum ersten Mal im Hotel Atlantic waren, haben wir uns noch nicht mal getraut, ein kleines Frühstück zu bestellen. Aber man gewöhnt sich schnell daran, daß alles für einen gemacht wird“, meint Sema, Sängerin des Duos. Ihre rappende Schwester Derya versichert allerdings, daß den beiden nach wie vor das eigenhändige Brötchenschmieren im elterlichen Heim besser liegt. Aber: „Immerhin sind wir zu Hotel-Experten geworden. Wir kennen jetzt jedes Fünf-Sterne-Hotel in Deutschland. Das ist auch schon was wert.“

Das reine Zuckerschlecken war das Leben auf Tour nicht. „Wir waren zum Schluß sowas von angeekelt“, meint Sema. „Auf den Aftershow-Parties wurde nur gesoffen und gekokst und gebaggert – aber richtig hardcore. Ich habe das Gefühl, die Tour war für etliche Leute die vögelfreie Zeit.“

Die Mutlu-Schwestern mochten davon nichts wissen, und bald hatte sich das wohl herumgesprochen. „Niemand hat uns schlecht behandelt, eher wie Babies. Total nett“, findet Derya. „Vor allem ich war das kleine Baby, aber Sema wurde fies angebaggert. Aber die haben bald rausbekommen, daß wir das nicht mitmachen.“So wurden die beiden am Ende der Tournee auch überschwenglich für ihre Professionalität und Coolness gelobt.

Das V.I.P.-Gewusel im Backstage-Bereich nutzten die Schwestern zum Kontakteknüpfen. Unter anderem interessierte sich der Merchandiser von Michael Jackson und den „Back Street Boys“für die Nord-Bremer HipHopperinnen; insgesamt mußten sie zu Hause drei Stunden lang Visitenkarten sortieren. Zudem gab es etliche Promis kennenzulernen. Otto Waalkes und Helge Schneider beispielsweise, „Die Prinzen“und „Rammstein“. Obwohl: „,Rammstein' haben wir eigentlich nicht kennengelernt. Die waren zwar da, haben aber mit keinem geredet.“

Anders der Boxer Axel Schulz, der es Derya besonders angetan hat: „Ich bin Box-Fan, war vorher allerdings keiner von Axel Schulz. Aber der ist ja so nett und süß! Überhaupt nicht abgehoben. Jetzt bin ich Fan.“

Mutlu-Fan wurde Udo Lindenberg alias „Crèmeschnittchen“, wie er sich von seinem Gefolge nennen läßt, recht schnell. Die Empfehlung geht auf ihren gemeinsamen Verleger zurück. Der sagte: „Udo, du stehst doch immer so auf multi-kulti. Ich hab da zwei Türkinnen, die rappen.“Crèmeschnittchen hörte das Debütalbum und konnte den Ohrwurm „Pseudogangsta“im Nu auswendig. Er ließ sie für sich und seine Mitarbeiter im Hamburger Knust testweise vorspielen und eröffnete ihnen hinterher, daß sie den Job ohnehin bereits in der Tasche hatten. Auf den Konzerten fungierten sie nicht etwa als Vorgruppe, sondern waren in die Show integriert. Ihren „Pseudogangsta“spielten sie allein, ansonsten sangen sie mit dem Meister.

Sie bekamen auch seine Vorliebe für exzentrische Outfits zu spüren. Derya stellte jedoch sofort klar: „Ich trag nur X-Large, und nicht auf Tussie.“Für Udo bedeutete das: Ein Astronautenanzug muß her! So kam es, und Udo sah, daß es gut war. Warum, weiß bis heute keiner so genau, und Derya ist froh, das enge und heiße Ding hoffentlich für immer los zu sein.

Jedenfalls kamen Mutlu beim Publikum gut an. Besonders, wenn sie in die Show integriert waren. Der Applaus beim Solosong war oft verhalten, aber freundlich. Davon sind sie angenehm überrascht: „Die Leute kennen Udo seit dreißig Jahren, und dann kommen plötzlich wir und machen HipHop.“Im Osten hatten sie gemeinhin einen schwereren Stand, da Udo dort „der Held“ist.

Zurück in Bremen sind Mutlu schon wieder schwer beschäftigt. Beim taz-Interviewtermin zwei Tage vor dem Mary J. Blige-Konzert im Pier 2 wunschträumt Sema noch, wie schön es wäre, bei einer solchen Künstlerin im Vorprogramm aufzutreten, „wo ich sie doch so verehre.“Nur einen Tag später wird aus dem Traum Wirklichkeit: Mutlu wurden kurzfristig als Support-Act für die US-Sängerin angeheuert.

Als nächstes sind sie am Freitag abend auf Bremens erster Girlgroup-Party im „Modernes“zu sehen. Sie wissen, daß sie da eigentlich nicht reinpassen, wollen das aber zu ihrem Vorteil nutzen. Derya: „Wir sind bestimmt die einzigen, die nicht mit dem Arsch wackeln.“

Ansonsten stehen für die kommenden Monate weitere Auftritte im Modernes und Schlachthof an, außerdem eine Fernsehsendung für N3 und die Neuaufnahme ihres Albums auf türkisch. Anfang nächsten Jahres mag dann mit „Pseudogangsta“die zweite Singeleauskoppelung anstehen. Möglichst mit Videoclip. Udo Lindenberg hat bereits Interesse bekundet, darin eine Gastrolle als Gangster zu übernehmen, um die Finanzierung und Senderotation zu sichern.

Aber fest wollen Sema und Derya sich darauf nicht verlassen. Udo sei zwar eine Seele von Mensch, aber unberechenbar und unnahbar. Zwar hatten Mutlu Gelegenheit, ihm hinter die Sonnenbrille zu schauen, sind sich aber nicht einig, was es da zu sehen gab. Derya findet seinen Blick „stechend“, Sema hingegen „schon etwas durchgeweicht und glasig“.

Andreas Neuenkirchen

Mutlus nächster Auftritt: Während der „Girls, Girls, Girls“-Party am heutigen Freitag im Modernes