■ Oran, zweitgrößte Stadt Algeriens, blieb vom Bürgerkrieg bisher weitgehend verschont. Millionen Algerier kommen auf der Suche nach Erholung und Entspannung hierher. Oran gibt sich weltoffen Von Reiner Wandler
: Eine Stadt verweigert sich dem Terror

Das kulturelle Gemisch in der Stadt am Südufer des Mittelmeers ist der ganze Stolz ihrer Einwohner. In Oran werden die Preise in Duros – fünf Centimos – berechnet, wie in Madrid. Schuhe heißen hier „Zapatos“, und Jugendliche rufen sich gern „Hombre“. Die Innenstadt erinnert an Südfrankreich, der älteste Stadtteil, Sidi Houari, an Andalusien. Medina Djadida, die Neustadt, beherbergt unzählige arabische Bazare. Während Algier im Schatten des Terrors erstarrt, boomt Oran und hält Kontakt zum südlichen Europa

Fatma kennt jeden hier: ein kurzer Gruß zu den jungen Kellnern, ein freundliches Nicken zum Tisch dort hinten in der Ecke, die obligatorischen Begrüßungsküßchen. Sie setzt sich zu ein paar Freunden. Ein flüchtiger Blick in die Karte, Fatma bestellt. Die Pizzeria Paradies gleich an der Uferpromenade ist eines ihrer Stammlokale.

Immer wenn Fatma ein paar freie Tage hat, kommt sie aus der Hauptstadt in ihre westalgerische Heimatstadt Oran. Dann stürzt sie sich wie besessen ins Nachtleben. „Ein Spaziergang mit Blick aufs Mittelmeer, gemütlich essen und danach tanzen gehen. Ich liebe das“, schwärmt die junge Frau. „In Algier ist die Politik, in Oran das Leben.“ Am liebsten besucht sie eine der Diskotheken an der Corniche, der Küstenstraße, die sich mit unzähligen Stränden und Bungalowsiedlungen im sanften Bogen Richtung marokkanische Grenze hinzieht. „Dort findest du für jeden Musikgeschmack etwas.“ Ob getragene arabische Rhythmen, Techno, House oder Indie, für alles gibt es einen Tanztempel.

Dann verschmilzt Fatma mit dem Takt der Musik und der Lichtblitze. Sie blüht auf. Sich wegtanzen aus der aggressiven Realität. Abschalten. Ein paar Stunden lang den Alltag in Algier vergessen – der Stadt, die Fatma einst unwiderstehlich anzog und aus der sie heute, seit sie dort arbeitet, jede freie Minute flieht. Diese feindliche, aggressive Metropole, in die sich die Hauptstadt in den letzten fünf Jahren des Dramas verwandelt hat. Die Stadt der unruhigen Blicke, der rastlosen Schritte, des ständigen Stresses, der beklemmenden Gefühle beim Besteigen des Busses. Die Stadt der prüfenden Seitenblicke auf jede Tasche, jedes Paket. Die Stadt der eiligst hochgekurbelten Autofenster, wenn es durch Viertel wie Bab al- Oued, Kuba oder die Kasbah geht. „In Algier hat sich überall Mißtrauen breitgemacht. Die persönlichen Freiheiten sind bis ins kleinste eingeschränkt“, erzählt Fatma. Nur die Normen beachten, bloß nicht auffallen. Wenn schon kein Kopftuch tragen als Frau, dann wenigstens einen knöchellangen Rock oder eine lange weite Hose, die Arme bedecken. Das Outfit, das Fatma für diese Nacht in Oran gewählt hat – die eng anliegende Bluse und die körperbetonten Jeans, Lippenstift, Lidschatten, das kunstvoll zurückgesteckte, hennarote Haar –, verdeutlicht, was sie an Algier stört.

Dabei war der Stadtteil al-Biar, in dem sich die junge Beamtin nach dem Studium in Algier niedergelassen hat, bis vor kurzem so etwas wie eine Insel im Meer der Angst. Schlendernde Pärchen, Freundescliquen auf Terrassen, amerikanische Fastfood-Ketten, ein einziges Sehen-und- gesehen-Werden bestimmte am Wochenende den Mittelschichtstadtteil auf einem Hügelzug über der malerischen Bucht von Algier. Bis drei Paketbomben in den letzten Wochen explodierten. Zwar waren keine Toten zu beklagen, aber dieser kleine, wohlgehütete Rest an gelöster Stimmung, der al-Biar auszeichnete, blieb auf der Strecke. „Sie haben ihr Ziel erreicht: Panik zu streuen“, stellt Fatma fest. Ihre Geburtsstadt Oran ist für die junge Frau jetzt der einzige Ort, wo sie noch abschalten kann. Wie durch ein Wunder blieb die Heimat Fatmas, knapp 400 Kilometer westlich der Hauptstadt, von Bomben und Massakern weitgehend verschont. Behia, die Hübsche, wie die Oraner ihre Stadt liebevoll nennen, wurde zu einem dieser Orte, wo die Zeit im Gegentakt zu laufen scheint, wohin sich das Leben in den blutigsten Konflikten zurückzieht.

Die Sicherheitsmaßnahmen, die in der Hauptstadt zum Alltag gehören, werden hier längst nicht so ernstgenommen. Zwar steht auch in Oran im Eingang jedes Hotels ein Tisch mit dem Schild „Sicherheitskontrollen“ – doch der Beamte, der die Taschen und Koffer der Reisenden genauestens unter die Luppe nehmen soll, fehlt.

Viele wohlhabende Familien sind in den letzten Jahren nach Oran gezogen. Die meisten von ihnen kommen aus Algier oder der Mitiya, dem Dreieck des Todes, wie die fruchtbare Ebene zwischen der Hauptstadt und den Atlasausläufern genannt wird, seit sich dort der größte Teil der Anschläge und Überfälle konzentriert. Andere Menschen aus dem vom Bürgerkrieg zerrissenen Land gönnen sich hier zumindest einige Tage auf der Suche nach ein bißchen Ruhe und Zerstreutheit. 14 Millionen Besucher jährlich zählt das Tourismusministerium in Oran bei 30 Millionen Landeseinwohnern.

Jedes Jahr Anfang Juni geben die großen algerischen Tageszeitungen den Startschuß: „Sommersaison in Oran eröffnet“, heißt es dann. In ausführlichen Artikeln beschreibt die hauptstädtische Presse das zu erwartende Tag- und Nachtleben der nächsten drei Monate, stellt neue Diskotheken und Restaurants vor. Dann füllen sich die Hotels aus der französischen Kolonialzeit in den Boulevards rund um den Platz des 1. November – benannt nach dem Tag, als die FLN 1954 den Befreiungskrieg gegen Frankreich aufnahm –, die Bungalowsiedlungen an den Stränden der Corniche quellen über. Die Menschen schieben sich durch die Einkaufsstraßen des Stadtzentrums, das stark an Marseille erinnert, besuchen die Anfang des Jahrhunderts für die arabische Bevölkerung angelegte Medina Djadida – Neustadt – mit ihren Straßenständen und Märkten oder spazieren durch Sidi Huari, den einst von Spaniern errichteten ältesten Teil der Stadt, und versinken in einer Welt, die mehr mit Andalusien als mit dem Maghreb gemein hat. Vor den drei Dutzend Kinos in Oran bilden sich Schlangen. Jeden Morgen und Abend staut sich der Verkehr an den Ausfallstraßen. Plätze und Säle werden sind ausgebucht von Konzerten, Theateraufführungen, Modenschauen.

Dann haben die kleinen Kabaretts Hochsaison. Sänger und Sängerinnen stellen ihre neuesten Stücke vor. Die Chebs (Jungs) verbreiten mit rhythmischer Stimme ihren Rai, was so viel bedeutet wie „meine Meinung, mein Standpunkt“. Von persönlicher Befreiung ist in ihren Songs die Rede. Einengende soziale Mißstände werden angeklagt. Liebe gibt es nicht ohne körperliches Verlangen. Gegen einen eiligst zugesteckten Geldschein überbringen die Chebs auch gesungene Nachrichten – vom lieblich umwerbenden Reim bis zu offen ausgesprochener Abneigung. Unten, im abgedunkelten Saal, wird derweil fröhlich gefeiert und getrunken.

Die Nachtschwärmer waren den Islamisten seit jeher ein Dorn im Auge. Aus anfänglichen Drohanrufen wurde nach dem Wahlsieg der Islamischen Heilsfront (FIS) und dem darauf folgenden Militärputsch 1992 blutiger Ernst. Cheb Hasni, der Romantiker unter den Rai-Sängern, fiel 1994 mit nur 26 Jahren den Kugeln eines islamistischen Kommandos zum Opfer. Sein Kollege Cheb Assis, der Komponist Babahamed Raschid und der Regisseur des Theaters von Oran, Abdelkader an-Nura, sind die Bekanntesten derer, die das gleiche grausame Schicksal ereilen sollte.

„Das war wie ein Schock“, sagt Scheif Hadschen, Schauspieler am Stadttheater. „Die Welt der Kultur und Intellektuellen hier ist so klein, jeder kennt jeden.“ Die erste Reaktion bei vielen Sängern, Schauspielern und Uniprofessoren hieß Auswandern. Cheb Mami und Cheb Khaled sind die beiden bekanntesten Künstler, die seither von Frankreich aus voller Sehnsucht ihr Oran besingen.

„Viele blieben dann doch und machten weiter“, sagt Hadschen. Der Einsatz hat sich gelohnt. Bombenanschläge und grausame Überfälle auf Vororte, wie sie andere Landesteile immer tiefer in den Strudel der Gewalt reißen, blieben in Oran bislang aus. Während in der Hauptstadt das Theater, die Cinemathek und viele Kaffeehäuser schlossen, erlebte Oran einen nie dagewesenen Kulturboom. Die Nationalen algerischen Theatertage wurden in die zweitgrößte Stadt des Landes verlegt, Filmwochen gehören zum festen Programm. Das legendäre Rai-Festival zieht Jahr für Jahr Tausende von Besuchern an. Die Großen aus dem Showbusiness der arabischen Welt machen auf ihren Tourneen Zwischenstopp in der Stadt zwischen Kap Ferrat und Kap Falcon.

„Noch heute muß ich oft an unseren Regisseur an-Nura und all die anderen Toten denken“, erzählt der Schauspieler Hadschen, „und mit den Erinnerungen kommt die Angst.“ Gegen dieses beklemmende Gefühl gibt es nur ein Mittel – arbeiten, viel arbeiten. „Ich habe mich als junger Mann für die Kunst entschieden und stehe noch heute dazu, auch wenn diese Wahl immer schwieriger wird“, spricht sich der Einundvierzigjährige selbst Mut zu. Seine fast schon frenetische Aktivität hat Hadschen weit über Oran hinaus bekannt gemacht. Wenn ihm der Spielplan Zeit läßt, arbeitet er als Showmann im Fernsehen, dreht Fernsehserien in Frankreich und Marokko oder reist mit unabhängigen Theatergruppen durch die Lande. Als er der Aufzählung noch seine Soloauftritte in verschiedenen Pariser Cafés hinzufügt, schwingt in der sonoren Stimme merklich Stolz mit.

Doch seine Lieblingsrolle hat mit Theater oder Film nur wenig zu tun. Ein alter Anzug, ein paar viel zu große Schuhe, ein Hut, eine rote Pappnase, etwas Schminke – Hadschen verwandelt sich Sommer für Sommer in Clown H'mimisch. Der Strom der kleinen und großen Fans reißt die ganze Badesaison über nicht ab. „Wir haben in Algerien nichts so nötig, wie herzhaft zu lachen“, ist sich Hadschen sicher. Um den Menschen die kurzen Momente der Flucht aus dem Alltag zu schenken, scheut Clown H'mimisch kein Risiko: „Letztes Jahr zog ich ganz allein durch die Dörfer Westalgeriens, die von Attentaten betroffen waren.“ Die meisten seiner Kollegen erklärten ihn nach dieser Reise durch die Geographie des Grauens für verrückt: „Die Menschen haben schließlich ein Recht darauf, zu vergessen, oder?“ rechtfertigt er nachträglich die waghalsige Reise.

Zur Zeit bereiten die 42 Künstler des Stadttheaters, das mittlerweile auf den Namen Abdelkader an-Nura getauft wurde, ein Heldenepos vor: ein Stück zu Ehren von Ahmed Sabana, einem Unabhängigkeitskämpfer aus Oran, der 1956 als erster Algerier von den Franzosen auf die Guillotine geschickt wurde. Doch eigentlicher Held des Stückes ist die Stadt Oran und ihre Bevölkerung. Eine Stadt, deren Charakter die verschiedenen Kolonialherren nie brechen konnten und die doch von allen etwas übernahm, wie der Flickenteppich der einzelnen Stadtteile unterschiedlichster Architektur und vor allem das Oranais, dieses seltsame Arabisch, vermischt mit französischen und vor allem spanischen Ausdrücken und Redewendungen, beweisen. Viereinhalb Stunden Lehrstück zur nationalistischen Erbauung, zur Sinnstiftung mitten in der Sinnlosigkeit aller Gewalt.

Stolze Unabhängigkeit – und doch wendet sich die Stadt heute wieder verstärkt Europa zu. Oran blickt einmal mehr an die Küste gegenüber, nach Spanien, dem einzigen Land, das sein Konsulat vor Ort nicht geschlossen hat. Ein Fährschiff nach Alicante verbindet die beiden Ufer des Mittelmeers alle zwei Tage. Die Gäste für die im Hafenbecken dümpelnde al-Dschasair tröpfeln nur langsam ein und verlieren sich gelangweilt in den riesigen weißgetünchten Wartehallen aus besseren Tagen. „Visa- Schengen heißt das Zauberwort – und das bekommen nur wenige“, erklärt ein Mann im teuren dunklen Anzug den Grund. Feste Arbeit mit gutem Einkommen oder ein Gewerbeschein, der Geschäfte auf der anderen Seite belegt, sind nötig, um den begehrten Aufkleber im Reisepaß zu erhalten. Der Mann Ende dreißig hat keine Probleme. Als Freiberufler stellt er sich stolz vor: „Anwalt und Experte für internationale Transaktionen“. Er freut sich auf die Überfahrt. „Jahresurlaub mit Frau und Kind. Es geht nach San Juan und dann nach Sevilla“, sagt er zufrieden. „Wir fahren mit dem Schiff, anstatt zu fliegen, um langsamer anzukommen, den Weg zu erleben“, erklärt die Frau ihre Wahl der billigeren Reisemöglichkeit nach Alicante.

Für die restlichen Fahrgäste, Dutzende von jungen Erwachsenen, mit nichts weiter als einer Sporttasche unter dem Arm, war die Wahl keine Frage. Sie sparen, wo sie nur können. Dabei fahren sie zum „Business machen“, wie sie es nennen. Ihr Geschäft: Waren einkaufen in Spanien, die danach die Schaufenster der Läden von Oran schmücken werden. „Uhren, Schuhe, Textilien, ich handle mit allem, man muß mit der Mode gehen“, sagt Tarik (29). Die „Business-Leute“ kennen sich. Sandwiches und Getränke werden hin und hergereicht, Reiseanekdoten und Einkaufstips ausgetauscht. „Sechs- bis siebenmal pro Monat fahre ich hinüber“, erzählt Tarik, „bis zu 20.000 Dinar netto verdiene ich dabei jedesmal“ – ein Viertel mehr als ein normaler Monatslohn in einer Fabrik oder Verwaltung. Allerdings sind es keine leichtverdienten 600 Mark.

Die ganze Reise über läuft Tarik mit seinem gesamten Geschäftskapital – je nachdem, was er kaufen will, bis zu 30.000 Mark – herum. Aus Angst, er könnte bestohlen werden, trägt er den Geldbeutel, als wäre er ein Pistolenhalfter, mit Gurten verzurrt unter der Achsel. Selbst nachts in den billigen Absteigen irgendwo in Alicante, Valencia, Albacete oder Madrid legt er ihn nicht ab. Doch der schwierigste Augenblick kommt erst bei der Wiedereinreise nach Algerien. „Die Grenzer machen gerne lange Finger“, weiß Tarik zu berichten. Er hat wie alle seine Kollegen auch einen „Freund“ unter den Polizisten. Mit ihm hat er feste Tarife vereinbart. Die Einreise geht so zügiger über die Bühne.

„Aber wehe, wenn der mal nicht da ist, dann können aus drei großen Taschen schnell eine werden“, fügt er noch hinzu, bevor er wieder den Kopfhörer vom Walkman aufsetzt und in den Klängen von Cheb Hasni versinkt. Er sieht müde, aber zufrieden aus.

In Oran hofft jeder darauf, vom Geschäft mit Ruhe und Sonne etwas abzubekommen. Tabakläden, Kassettenstände, fliegende Eisverkäufer oder der Verleih von Sonnenschirmen, keine Möglichkeit wird ausgelassen. „Eigeninitiative ist gefragt, wenn du es zu etwas bringen willst“, lautet die Lebensphilosophie von Ahmed, dem Besitzer einer kleinen Telefonzentrale. Die staatliche Krisenindustrie kann schon längst nicht mehr allen Arbeit bieten, in einem Land, in dem siebzig Prozent der Leute unter dreißig Jahre alt sind.

Oran zieht so immer mehr Jugendliche aus den umliegenden Dörfern an, die sich ihr Stückchen vom Geschäft mit den Besuchern abschneiden wollen. Nicht immer mit Erfolg. Viele Jungs hängen nachts in den Seitenstraßen des Platzes des 1. November herum, betteln die an, die in den abgedunkelten Hinterzimmern der Bars und Cafés ihre Zerstreuung im Alkohol suchen. Dabei kommt nicht einmal genug zusammen, um sich etwas Haschisch zu kaufen. Klebstoffdämpfe aus Plastiktüten heißt der billige, höchst schädliche Ersatz. Viele der jungen Frauen lassen sich aus lauter Verzweiflung von den Besitzern der Merkes – „geschlossene Häuser“ – rekrutieren.

Ahmed jedenfalls kennt keine finanziellen Sorgen. Der gebrauchte Peugeot 306 beweist dies. Nach einer Schlosserlehre war er immer wieder arbeitslos oder verdiente sich sein Geld auf Montage im benachbarten Libyen. Jetzt unterhält der 28jährige zusammen mit seinem Cousin einen kleinen Kiosque Multi Service (KMS) – eine Telefonzentrale mit sieben Apparaten und einem Verkaufsstand für Zeitungen, Tabak und Briefmarken. Das staatliche Postmonopol tritt an die beiden ihm Rahmen eines Programms gegen Jugendarbeitslosigkeit 15 Prozent der Gewinne ab – genug, um zu leben. Abends geht er gerne mit seiner Verlobten aus. Das Autoradio trägt er dabei als Statussymbol ständig unterm Arm. „Im Dezember werden wir heiraten“, erzählt Ahmed zufrieden. Seine Verlobte ist Bibliothekarin an der Universität. Dort verdient sie zwar auch nicht viel, aber immerhin ist der Job sicher. Die beiden kennen nur eine Sorge: „Die Mieten haben sich vervierfacht, seit so viele Reiche von außerhalb herziehen.“ Aber Ahmed hat bereits neue Pläne, um das Einkommen der künftigen Familie zu erhöhen – schließlich wollen sie ja auch Kinder. Im Sommer, wenn die Touristen wiederkommen, will er ein Fastfood-Restaurant aufmachen. „Das könnte ein gutes Geschäft werden, denn dann ist hier in Oran fast soviel los wie an der Cote d'Azur – nur mit weniger Deutschen“, scherzt der junge Geschäftsmann voller Vorfreude. Plötzlich weicht das Grinsen aus seinem Gesicht. „Natürlich vergesse ich die Situation in Algier nicht und leide, wenn ich die Schreckensmeldungen von dort höre“, fügt er mit ernster Mine hinzu, wie um sich für das zuvor so Dahingesagte zu entschuldigen.

In den letzten Wochen bringen die Zeitungen auch für Oran beunruhigende Kunde. Im Hinterland werden immer wieder Reisebuse von Männern in Militäruniform gestoppt. Was zuerst wie eine Routinekontrolle aussieht, erweist sich schnell als Täuschungsmanöver eines islamistischen Kommandos. Dutzende von Reisenden wurden bereits grausam ermordet. Die Presse spricht einen schrecklichen Verdacht aus: Haben die Kommandos aus der Region um Algier nach den großangelegten Militäroperationen hier im Westen Zuflucht gesucht?

Ungeachtet des dunklen Schattens, der sich schon bald über die Stadt legen könnte, reden die Rai-Sänger in den Cabarets und Diskotheken weiter von Vergnügen, Lust und Liebe. Und junge Menschen wie Fatma, Tarik und Ahmed folgen ihrem Ruf und füllen jedes Wochenende erneut Strände und Tanzflächen.

Warum auch die Hoffnung verlieren? Soll nicht sogar die nächste Sommersaison mit Rai-Star Khaled eröffnet werden? – Der erste Auftritt in Oran, der Stadt, die ihn einst groß machte, noch bevor die Islamisten das Todesurteil gegen ihn aussprachen? Wenn das kein gutes Zeichen ist.