■ Morgen vor 30 Jahren wurde im Audimax der Hamburger Universität der Spruch „Unter den Talaren – Muff von 1000 Jahren“ einer erregten Öffentlichkeit von Professoren und Dozenten um die Ohren gehauen Von Reinhard Kahl
: Eine Parole, die Geschichte lostrat

Die Achtundsechziger-Bewegung formulierte etliche Sprüche, die später gerne und oft zitiert wurden. „Wer zweimal mit der gleichen pennt, gehört schon zum Establishment“ oder auch „Eine Frau ohne Mann ist wie ein Fisch ohne Fahrrad“. Die Parole, mit der zwei Studenten vor drei Jahrzehnten nicht nur akademische Würdenträger erschreckten, gerann zum Kurzprogramm einer ganzen Generation: „Unter den Talaren – Muff von 1000 Jahren“. Er war sowohl gegen die verdrängte Nazivergangenheit der BildungsbürgerInnen gerichtet als auch gegen die ganze SpießerInnenrepublik

Studenten siezten sich noch. Universitätsprofessoren ließen sich mit „Magnifizenz“ ansprechen. Und der Asta, der Allgemeine Studentenausschuß, organisierte Fackelzüge für Professoren, die einen Ruf an andere Universitäten angenommen hatten. Die Universität – ein Mummenschanz, der reibungslos funktionierte. Über 15 Assistenten verfügten manche Professoren – die sich obendrein für die Lehre kaum interessierten.

Auf dem Campus heimisch werden konnte nur, wer dem Clan eines Professors angehörte. Einer, dem dieses Privileg zuteil wurde, war später unter den Protestierenden und entwickelte sich danach zum größten Konvertiten der Linken: der Schriftsteller Peter Schütt. Mitte der sechziger Jahre war der Germanist wissenschaftlicher Assistent an der Hamburger Universität. Am wohlsten hatte er sich bei Professor Georg Pretzel gefühlt. Der hatte ein Haus mit großem Garten. Schütt kam vom Lande und übernahm bald zusammen mit Pretzels Gattin die Fürsorge der Johannisbeeren und Kirschbäume. Einem anderen Professor schrieb er Vorlesungen über den deutschen Expressionismus und stellte ihm Prüfungsfragen zusammen. Schütt wählte auch für ein Reclam-Bändchen Klopstocks Oden aus. Die Anthologie erschien mit dem Hinweis: „herausgegeben von Karl-Ludwig Schneider“. Kein Wort von Peter Schütt.

Der faßte sich ein Herz, ging in die Unibuchhandlung und signierte jedes der 50 Exemplare „mit herzlichen Grüßen vom Herausgeber Peter Schütt“. Der Professor war beleidigt und sprach mit seinem undankbaren Schützling kein Wort mehr. Das war 1966. Irgendwas lag in der Luft.

Der Asta hatte nicht viel zu sagen. Wenn Detlef Albers und Gerd Hinnerk Behlmer als Asta-Vorsitzende an Sitzungen des Akademischen Senats teilnahmen, zogen sie sich dunkle Anzüge an und banden sich einen Schlips um. Der Offizierssohn Albers wollte eigentlich Pianist werden, zog dann aber ein Brotstudium vor, Jura, wie sein Freund, Oberleutnant der Reserve Gerd Hinnerk Behlmer.

Im Akademischen Senat verlangten die beiden Mitsprache für die Studenten „in allen sie betreffenden Fragen“. Mitsprache – nicht mehr. Aber selbst das war den Professoren zuviel. Als der Antrag monatelang verschleppt wurde, schlug Behlmer auf den Tisch. Der Rektor erschrak so sehr, daß er die Sitzung sofort schloß.

Die Universität war seit Anfang der sechziger Jahre auf dem Weg zur Massenhochschule. Darauf war sie nicht vorbereitet. Kaum jemand dachte an Reformen. Viele Studenten fremdelten in der Hochschule wie Kinder auf dem Bahnhof. Sie erwarteten vom Studium endlich Erkenntnisse. Statt dessen hielt man zuvörderst auf Kontrolle.

In Vorlesungen beispielsweise. Am Ausgang des Audimax stand ein Assistent des Professors, der den Studierenden, die zu spät kamen oder früher raus wollten, die Studienausweise abnahm. Sie könnten die Ausweise gegen eine Entschuldigung beim Professor persönlich wieder eintauschen. Ein Student knöpfte sich den Aufpasser vor: „Wenn das noch mal vorkommt, gibt's Ärger.“

Es kam nicht mehr vor. Es war Sommer 1967, und die Studenten entdeckten die Universität als Thema ihres Protestes. Zuvor hatte sich die Rebellion an großen Themen entzündet: Vietnamkrieg, Notstandsgesetze, Große Koalition, das Regime des Schahs. Am 2. Juni 1967 wurde bei einer Demonstration gegen den Monarchen in Berlin der Student Benno Ohnesorg von einem Polizisten erschossen.

Bis dahin grummelte die noch nicht artikulierte Unzufriedenheit dieser ersten, in der Demokratie aufgewachsenen Generation. Sie fremdelte und war in der Tat fremd im Land des Wirtschaftswunders und der Restauration. Die Demokratie hatte die großen Institutionen und vor allem den Alltag noch längst nicht erreicht.

Die Studentenaktionen waren wie ein Laborversuch, der bestätigen sollte, was bis dahin nur vermutet wurde. Der Industriekurier drohte: „Demokratie hat in Betrieben sowenig zu suchen wie in Schulen, Universitäten und Gefängnissen.“

Jetzt gaben die Studenten dem Übel Namen, am liebsten vielversprechende Fremdwörter: Kapitalismus, Autorität und Ordinarienuniversität. Sie entdeckten ihre Liebe zu Theorien – von Marx, Freud und Marcuse. Stoff, um die Welt zu verändern. Mit dem richtigen Buch in der Hand stand man nicht mehr am Rande, sondern auf der richtigen Seite. Warum sollte die muffige Universität nicht ein lichter Raum der Theorie werden? Nichts schien plötzlich mächtiger, erotischer als große Worte.

November 1967. Das Wintersemester hatte begonnen. Nach dem Sommer mit Vietnamkongressen, Demos gegen Notstandsgesetze und Springer-Presse begann man auch in den Feuilletons über Revolution, eindimensionale Menschen und Spätkapitalismus zu diskutieren.

Im Audimax der Hamburger Universität soll am 9. November die feierliche Rektoratsübergabe zelebriert werden. Das Collegium Musicum der Universität spielt Händel. Die Honoratioren der Universität und der Stadt sind geladen. Professoren stellen sich am Eingang auf – es waren mehr als die 350 Studenten gekommen, die man freiwillig hereinlassen wollte. Sie haben Talare angelegt. Neben dem Eingang warten Gerd Hinnerk Behlmer und Detlef Albers. Bis zum Sommer waren sie Asta-Vorsitzende. Unter einem ihrer schwarzen Anzüge haben sie ein Transparent versteckt. Tage zuvor hat Behlmer auf dem Bauzaun vor dem Philosophenturm ein Graffito gelesen: „Unter den Talaren Muff von 100 Jahren.“ Behlmer gibt eine Null dazu. Den Spruch hatte der Germanist Peter Schütt an den Zaun geschrieben. Behlmer klebte mit seinem Freund Albers in der Nacht zum 9. November in den Asta-Räumen mit Leukoplast weiße Buchstaben auf den Trauerflor, der dort noch von der Beerdigung Benno Ohnesorgs lag.

Sie übten, wie man sich schnell vor den Zug der einziehenden Professoren setzt. Die Prozedur kannten sie ja von früheren Feiern zur Rektoratsübergabe. Aber sie mußten vorsichtig sein; alle erwarteten, daß was passiert. Die Frauen der Professoren hatten sich mit Zellophanhäubchen eingedeckt – zum Schutz ihrer Frisuren. Und als Reinhold Oberlercher, einer der Agitatoren des Hamburger SDS, das Foyer des Audimax betrat, wurde er von Zivilbeamten festgenommen und für die Dauer der Feier in der Professorengarderobe interniert. Aber von Albers und Behlmer erwartete man keine Militanz.

Geübt huschten sie vor den Zug der Talare und schritten würdevoll mit dem Transparent vor all den Ordinarien und Magnifizenzen die Treppen hinunter. Die Professoren konnten die Parole, der sie mißtrauisch folgten, nicht lesen. Aber die geladenen Gäste sehr wohl. Wenigstens die Fotografen konnten die weißen Buchstaben auf schwarzem Stoff lesen: „Unter den Talaren – Muff von 1000 Jahren“.

Es kam noch zum Tausch der Amtsketten zwischen dem neuen Rektor Werner Ehrlicher und seinem Vorgänger Karl- Heinz Schäfer. Die vorgesehenen Ansprachen wurden indes nicht mehr alle gehalten. Studenten skandierten „Ehrlicher wird immer entbehrlicher“. Der neue Rektor, eine Nationalökonom, las unbeeindruckt seinen Vortrag. Mit Talar, Halskrause und Amtskette wirkte er plötzlich wie ein Bild aus der Werbung für Ratsherren Pils. Das Lachen der Studenten veränderte alles. SDS-Genossen hatten sich auf Ehrlicher vorbereitet und hielten Gegenreden, während er sprach. Als dann der ehemalige Rektor aufstand, erhoben sich die Talare auf der Bühne und verließen gemeinsam das Audimax. Sprechchöre übertönten das Universitätsorchester. Die Feier ging in eine neue Veranstaltungsform über – und wurde zum Teach-in.

Der Abend hatte noch ein Nachspiel. Hinter einer Halskrause zischelte es: „Ihr gehört alle ins KZ.“ Das hatten nicht nur Studenten gehört. Thomas Walde, Asta- Pressereferent, sammelte Zeugenaussagen und entwarf einen Steckbrief. Die Hamburger Presse samt Springer-Zeitungen stiegen auf den bösen Spruch ein. Es war wie bei den meisten Aktionen der antiautoritären Bewegung: Die Reaktion rechtfertigte nachträglich den Protest. Der Urheber des KZ-Spruchs zeigte sich schließlich selbst an. Der Orientalist Professor Bertold Spuhler sagte, das sei ihm so rausgerutscht. Er bekam einen Verweis.

Thomas Walde wurde später Journalist. Er brachte es bis zum Chefredakteur des Stern. Dort stolperte er über die Hitlertagebücher. Heute ist er Programmdirektor beim Privatsender Radio Hamburg. Asta-Sportreferent in diesen Zeiten war Willi Lembke, er wurde als Manager des Fußballklubs Werder Bremen bekannt. In Bremen wurde Detlef Albers Professor für Politikwissenschaft. Zeitweilig war der prominenteste Vertreter der SPD-Stamokap-Fraktion vom Parteiausschluß bedroht. Er bewährte sich dann in der Grundwertekommission der Partei und ist heute in Bremen SPD-Landesvorsitzender. Auch Gerd Hinnerk Behlmer ist SPD-Mitglied. In Hamburg leitet er die Senatskanzlei.

Und Peter Schütt, der damals die Parole an einen Bauzaun geschrieben hatte? Nach dem 9. November 1967 gründete er die „Kritische Universität“ an der Hamburger Uni mit. Einigen Professoren warf er vor, Nazis gewesen zu sein. Dafür bekam er Hausverbot in der Universität. Seine wissenschaftliche Karriere endete abrupt. Seitdem arbeitet er als freier Schriftsteller.

Schütt ist der große Konvertit der Linken: Bevor er zum Linken wurde, war er bereits vom evangelischen zum katholischen Glauben gewechselt. Dann avancierte er nacheinander zum Maoisten, Anarchisten und Trotzkisten, um schließlich in die DKP einzutreten. Die wählte ihn in ihren Parteivorstand und ließ ihn für den Bundestag kandidieren. Noch vor der Wende 1989 schloß die Partei den Gorbatschow-Anhänger Schütt aus dem Bundesvorstand aus. Seitdem veröffentlicht er seine Abrechnungen in der FAZ, neuerdings auch im Mut. Bernhard Wintzek, der Verleger dieser Zeitschrift, war auch mal Bundestagskandidat, aber für die NDP. Vor einem Jahr pilgerte Peter Schütt nach Mekka und wurde von einem saudischen Prinzen an dessen Hof geladen. Nun ist er zum Islam übergetreten.

Unerwartet auch die Karriere von SDS- Funktionär Reinhold Oberlecher. Nachdem er das „Kapital“ von Marx in Formeln übersetzt und sich in Pädagogik habilitiert hatte, entdeckte der arbeitslos gebliebene Systembastler das deutsche Wesen. Heute bringt er korporierte Studenten auf den rechten Weg und gilt als Ideologe der radikalen Neuen Rechten.