Klassenbewußtsein im Billy-Regal

■ Die neugegründete Georg-Lukács-Gesellschaft legt ihr erstes Jahrbuch vor. Aber wer interessiert sich noch für den marxistischen Theoretiker des sozialistischen Realismus?

Wenn im deutschen Feuilleton der Name Georg Lukács fällt – was selten geschieht –, sind die Worte „sozialistischer Realismus“ meist nicht weit. Lukács, das war doch der Kommunist, der Thomas Mann toll und Beckett pervers fand. Und wer ein bißchen am Ruf von Marcel Reich-Ranicki sägen will, der wirft ihm vor, daß er seinen Literaturbegriff bei Lukács gelernt habe, damals, im Osten. Andererseits hatte in den 60er und 70er Jahren jeder, der sich im Westen zur „undogmatischen Linken“ zählte, „Geschichte und Klassenbewußtsein“ von Lukács im Billy- Regal stehen. Und im Osten, wo angeblich alles aus Lukács' theoretisch begründetem Diktat des sozialistischen Realismus folgte, gab es eine Zeit, in der seine Werke aus den Regalen verschwinden mußten. Er hatte beim Aufstand in Ungarn auf der falschen Seite gestanden, und plötzlich war seine Ästhetik hoffnungslos bildungsbürgerlich und konterrevolutionär.

Wenn sich jetzt die neugegründete Georg-Lukács-Gesellschaft wieder mit dem umstrittenen Philosophen beschäftigt, geht es ihr auch darum, ihn aus den diversen Schubladen herauszulösen und einen Blick auf sein Gesamtwerk zu bekommen, von der idealistischen Frühphase, in der Lukács eine eigene Theorie des Romans entwickelte, über die marxistischen Schriften bis zum Spätwerk, in dem er sich über den Versuch einer marxistischen Ontologie ethischen Fragen zuwandte.

1885 in Budapest als Sohn einer bürgerlichen jüdischen Familie geboren, schloß sich Lukács nach dem Ersten Weltkrieg begeistert den Kommunisten an und mußte deswegen aus Ungarn fliehen. Er ging nach Wien, studierte dann in Berlin, beschäftigte sich mit Ästhetik und Philosophie und traf mit der linken Avantgarde der Weimarer Republik von Brecht bis Bloch zusammen. Vor dem Nationalsozialismus floh er nach Moskau. Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrte er in seine Heimat Ungarn zurück und galt bald als einer der international einflußreichsten marxistischen Theoretiker. 1956, nach dem Scheitern des ungarischen Aufstands, entkam er nur knapp dem Todesurteil, wurde zwangspensioniert und aus der Partei ausgeschlossen. Den Prager Frühling – und sein Scheitern – hat er noch erlebt; 1971 starb er in Budapest.

Die Lukács-Gesellschaft wird sich als international arbeitende wissenschaftliche Gesellschaft um den Nachlaß und die Publikation seines Werks kümmern, interdisziplinäre Symposien veranstalten und ein Jahrbuch herausgeben. Doch wie die Initiatoren, der Paderborner Emeritus und Lukács- Experte Georg Benseler und der Duisburger Germanist Werner Jung, im nun erschienenen ersten Jahrbuch schreiben, geht es um mehr als „nur“ um Wissenschaft: Man will einer kritisch engagierten, linken Öffentlichkeit ein Forum geben und das „kritisch-sozialistische, offene, undogmatische Denken im Geiste Georg Lukács' weiterführen, das nach der ,Wende‘ preisgegeben worden ist.“

Die Initiatoren möchten, erklärt Werner Jung, außerhalb des akademischen Betriebs einen Diskussionsfaden wieder aufnehmen, der nach 1989 weitgehend verlorengegangen sei: den der Utopien, Alternativen und Möglichkeiten linker Politik. Das bedeute, wieder über Sozialismus – als Projekt, nicht als bereits gescheitertes Modell – nachzudenken und über die brachliegenden Hoffnungen, die damit einmal verbunden waren. Sozialismus- statt Standortdebatte also, wobei sich die Lukács-Gesellschaft keineswegs an eine bestimmte Partei binden will: Das, so Jung, würde einer Persönlichkeit wie Lukács, der sein Leben lang immer wieder zwischen die parteipolitischen Fronten geraten ist, nicht gerecht.

Der Gründungsaufruf für die Georg-Lukács-Gesellschaft hat, so Jung, besonders international eine für die Initiatoren überraschend große Resonanz gefunden. Natürlich ist vor allem in Budapest das Interesse groß; aber auch aus Japan und Korea, den Vereinigten Staaten, Frankreich und Italien kamen Antworten, darunter von seinen bedeutendsten Schülern wie Agnes Heller oder von Publizisten wie György Dalos. Mit dem ersten Jahrbuch, das nun vorliegt, hat die Lukács-Gesellschaft ihr Vorhaben, die wissenschaftliche Lukács- Rezeption interdisziplinär voranzubringen, begonnen. Das Jahrbuch stellt Aufsätze zur Lukác-Rezeption zwischen Modernität und Postmodernität und philologische Untersuchungen zur Romantik in Lukács' Literaturtheorie neben bisher unveröffentlichte Texte von Lukács selbst: ein erster Versuch der Zusammenarbeit auch mit den ungarischen Kollegen. Inwieweit eine Debatte zwischen Ost und West und mit Lukács als Schutzheiligem angestoßen werden kann, bleibt abzuwarten. Elke Buhr

Frank Benseler / Werner Jung: „Lukács 1996. Jahrbuch der Internationalen Georg-Lukács-Gesellschaft“, Peter Lang Verlag, Bern 1997, 195 Seiten, 28 DM