Erwacht beim Streit um Privilegien

Beharrlich stehen sie vor U-Bahn- Schächten und Kaufhäusern, stoisch halten sie ihre Posten in Fußgängerzonen: Zeugen Jehovas. Ihre Mienen verraten nie, was in ihnen vorgehen könnte. Sie stehen einfach da, stundenlang, auch bei Regen oder Kälte – und halten Zeitschriften vor der Brust: den Wachtturm oder Erwachet. Angesprochen werden Gottes eifrigste Kinder selten. Dafür sprechen sie um so öfter „Weltmenschen“ an, also alle, die keine „Zeugen“ sind. Sie versuchen strikt, diese vom rechten, von ihrem Glauben zu überzeugen.

Die gußeiserne Mentalität hat vielen tausend Mitgliedern dieser 1881 in den USA gegründeten Glaubensgemeinschaft während des Nationalsozialismus Haft in Konzentrationslagern und Zuchthäusern eingebracht. Denn sie halten sich rigide an den Wortlaut der Bibel. Und dort steht nichts von Kriegsdienst oder Hitlergruß. Trotz schwerer Mißhandlungen durch die SS blieben sie ihrem Glauben ergeben. Anders als die evangelische oder katholische Kirche arrangierten sich die Zeugen Jehovas mit dem Dritten Reich nie.

Mehr als ein halbes Jahrhundert nach dem Holocaust wollen die Zeugen Jehovas endlich den Staatskirchen gleichgestellt werden. Ihr Ziel: Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts. Dafür sind die „Bibelforscher“, wie die Zeugen Jehovas sich bis 1931 nannten, jetzt vor das Bundesverfassungsgericht gezogen.

In der DDR war die Religionsgemeinschaft verboten. Allerdings wurde ihr 1990 im Einigungsvertrag der Status einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft zugebilligt. Und den wollen die Bibelforscher für ganz Deutschland festschreiben lassen. Deshalb beantragten sie ein Jahr nach der Wende beim Berliner Senat ihre öffentlich-rechtliche Anerkennung. Aber der lehnte ab: Für die Bibelforscher sei der Staat „ein Herrschaftsinstrument des Satans“, so ein Jurist der Berliner Kulturbehörde. Daraufhin zogen die Zeugen Jehovas vor das Berliner Verwaltungsgericht, das ihrem Antrag stattgab. Die Richter befanden, daß die Religionsgemeinschaft auf Dauer angelegt sei. Das zeige schon allein ihr Bestehen in Deutschland seit 1897. Zudem seien keine staatsfeindlichen oder gesetzeswidrigen Ansätze zu erkennen.

Eben dies wurde den Zeugen Jehovas auch von der nächsthöheren Instanz, dem Berliner Oberverwaltungsgericht, attestiert. „Eine faire Einschätzung“, sagt Wolfram Slupina, Sprecher der Zeugen Jehovas. Denn seine Gruppe lebe seit Jahrzehnten, selbst im Dritten Reich, biblische Grundsätze. Erst als der Berliner Senat den Rechtsstreit vor das Bundesverwaltungsgericht brachte, unterlagen die Bibelforscher. Die Bundesrichter begründeten ihr Urteil damit, daß die Zeugen nicht an politischen Wahlen teilnehmen. Also fehle ihnen „die unerläßliche Loyalität zum demokratisch verfaßten Staat“.

Was die Zeugen Jehovas vor Gericht trieb, hat wohl mit dem Wunsch nach Gleichbehandlung mit größeren Glaubensorganisationen zu tun – doch hinter dem Rechtsstreit verbergen sich auch handfeste weltliche Interessen. Körperschaften des öffentlichen Rechts dürfen Kirchensteuern einfordern, Seelsorger in Gefängnisse schicken oder Rundfunkräte entsenden. Und sie zahlen keine Grunderwerbs- und Erbschaftssteuern.

Christoph Link, Verfassungsrechtler aus Erlangen und Berliner Senatsgutachter im Jehova-Rechtsstreit, rechnet damit, daß die Karlsruher Richter „die Entscheidung der Bundesverwaltungsrichter bestätigen werden“. Die Religionsfreiheit wolle niemand antasten, aber Vorrechte, die der Staat vergebe, seien nun einmal an eine gewisse Rechtstreue gebunden: „Die ist bei den Zeugen Jehovas, die sich weigern zu wählen, nicht gegeben.“ Das sehen die Kläger anders. „Totalitäre Systeme zeichnen sich besonders dadurch aus, daß sie angeblich freie Wahlen veranstalten, dann aber durch Druck den Bürgern das Recht verweigern, sich der Stimmabgabe zu enthalten“, schreibt vorwurfsvoll der Informationsdienst der Bibelforscher.

Die Zeugen Jehovas erinnern dabei an den Nationalsozialismus. Damals pochten sie auf „Neutralität“ – die SA prügelte sie an die Wahlurnen. Denn die Zeugen Jahwes (Gottes) verweigerten den Hitler- und den Fahnengruß. Sie traten nicht in NS- Organisationen ein. Obwohl schon 1933 verboten, setzten sie ihren „Predigtdienst“ fort. Den Wehrdienst verweigerten sie stur. „Sie haben sich dem Regime konsequent verweigert“, sagt Detlef Garbe, Leiter der Hamburger KZ-Gedenkstätte Neuengamme. Keine andere Glaubensgemeinschaft habe sich Volk, Führer und Vaterland gegenüber so unbeugsam gezeigt.

Sie verloren ihren Arbeitsplatz, weil sie nicht in die Deutsche Arbeitsfront eintreten wollten. Ihre Kinder wurden in Heime gesteckt. Heinrich Himmler zeigte sich beeindruckt: „Es sind unerhört fanatische, opferbereite und willige Menschen“, schrieb der Reichsführer SS in einem Brief, „könnte man ihren Fanatismus für Deutschland einspannen, so wären wir noch stärker als wir heute sind.“

Respekt erwarben sich die Zeugen auch bei ihren Mitgefangenen. Die Bibelforscher „bewiesen unerschütterlichen Oppositionsgeist“, ja „Märtyrergesinnung wie keine andere Gruppe im Lager“, steht in einem Bericht zu lesen, der 1937 aus dem KZ Sachsenburg nahe Chemnitz geschmuggelt wurde. Ihr Glaube dagegen stieß meist auf Unverständnis, zumal sie auch in den Lagern versuchten, Mithäftlinge und sogar SS-Schergen zu missionieren – teilweise mit Erfolg. Zusammen mit Juden und Homosexuellen waren die Bibelforscher bis 1942 dem besonderen Terror der SS ausgesetzt. In der Lagerhierarchie standen diese drei Gruppen für die SS ganz unten. Doch die kompromißlose Haltung der Bibelforscher „frappierte“ die NS-Funktionäre „oftmals bis zur Ratlosigkeit“, schreibt der Historiker Detlef Garbe.

So sollte an dem Bergmann Johann Rachuba ein Exempel statuiert werden. Er galt als „Seele des Widerstands“ der Bibelforscher im KZ Sachsenhausen. „10 Tage Arrest und 25 Stockhiebe, weil er Reklame für Jehova im Lager machte“; „30 Tage verschärften Arrest und 25 Stockhiebe, weil er den ersten Schutzhaftlagerführer bei einer Belehrung auslachte“, stand in seiner „Strafkarte“.

Rachuba verweigerte bis zu seinem Tod den Fahnengruß: „,Das ist Götzendienst‘, sagte er, womit er ja recht hat!“ berichtete ein evangelischer Mithäftling, „immer wieder wird er über den Bock gespannt und in Dunkelhaft gesperrt. Aber er beugt sich nicht.“ Als der Zeuge Jehovas 1940 ins KZ Wewelsburg bei Paderborn überstellt wurde, war sein „Körper voller Narben“, schrieb ein Glaubensbruder des Familienvaters. „Beide Beine zog er steif nach, denn die Muskeln waren zerschlagen. Aber immer war er glücklich.“

1942, nach sieben Jahren Konzentrationslagerhaft in Esterwegen, Sachsenhausen und Wewelsburg, starb Rachuba an den Folgen der Mißhandlungen.

Sie wurden vom NS-Regime blutig verfolgt – weil sie den Nationalsozialisten jede Ehrbezeugung verweigerten. In der DDR mußten sie illegal arbeiten: Die Zeugen Jehovas klagen über diese Schikanen dennoch nicht. Sie glauben, daß solche Pressionen lediglich von der ersehnten „Endzeitschlacht“ Kunde geben. Ein Report von Petra Lutz und Uta Andresen

Von 1942 an verbesserte sich die Lage der Bibelforscher in den Konzentrationslagern. Häftlinge wurden wertvoll, weil in der Kriegszeit Arbeitskräfte gebraucht wurden. Gerade die Zeugen Jehovas, von denen viele Handwerker waren. Wichtiger für die SS war allerdings: Die Zeugen Jehovas bewiesen sich als zuverlässige Arbeiter. Sabotage kam nicht in Frage. Wo es nicht gegen Jehovas Willen verstieß, befolgten sie das Lagerreglement. Flucht war undenkbar. Sie wurden daher oft für Außenkommandos oder als Hausgehilfinnen von SS-Führern eingesetzt. Arbeit für die Rüstungsindustrie verweigerten sie jedoch – aus religiösen Motiven. Das Ziel der Bibelforscher war nicht die „Untergrabung des Regimes, sondern der Erweis der Glaubenstreue“, so NS- Forscher Garbe in seiner Dissertation über die Zeugen Jehovas im Dritten Reich. Erlaubt war das Übertreten von SS- Befehlen nur dann, wenn sie religiöse Vorschriften betrafen. Findig schmuggelten die Gottesfürchtigen Traktate („geistige Speise“) in die Lager, hielten Versammlungen ab und führten heimlich Taufen durch – nötigenfalls auch in Regentonnen.

Nach der Kapitulation des NS-Regimes hatten die Zeugen Jehovas Anspruch auf „Wiedergutmachung“ nach dem Bundesentschädigungsgesetz. Die gab es für KZ-Haft, unter Umständen auch für Arbeitsplatzverlust und Zuchthausstrafen. Urteile wegen Kriegsdienstverweigerung allerdings, von denen in erster Linie Bibelforscher betroffen waren, fielen nicht unter diese Bestimmung.

Wie viele Bibelforscher Anträge auf Wiedergutmachung gestellt haben, ist nicht bekannt. Der deutsche Jehovas- Sprecher Wolfram Slupina nimmt an, daß einige seiner Glaubensgeschwister auf Anträge verzichtet haben, „weil sie sich ihren Glauben und ihre Standhaftigkeit nicht bezahlen lassen wollten“.

In der DDR wurden die Bibelforscher 1950 erneut verboten – was sie von Entschädigungen für erlittenes NS-Unrecht ausschloß. Viele Zeugen Jehovas kamen zum zweiten Mal in Gefangenschaft. Otto Hamann, mehr als fünf Jahre in Konzentrationslagern inhaftiert, wurde 1952 im Namen des Volkes der Arbeiter- und Bauernrepublik zu 15 Jahren Haft verurteilt.

Laute Klagen über die Repressionen kamen von den Zeugen Jehovas indes nicht. Sie interpretierten ihre Verfolgung als Vorzeichen „Harmagedons“ – der Endzeitschlacht. So prophezeien es die Bibelforscher seit Ende des vorigen Jahrhunderts, als sich die Gruppe in den USA unter Führung des Laienpredigers Charles Taze Russell von einer adventistischen Gruppe abspaltete. Mit dem Geld des wohlhabenden Kaufmannssprosses wurden die Zeitschrift Zion's Watch Tower and Herald of Christ's Presence und die Dachorganisation „Watch Tower Society“ gegründet. Im Jahre 1900 gründete der Glaubenszirkel seine erste europäische Filiale – und fand in der Folgezeit wie in den USA auch in Europa seine Anhänger vor allem bei den gesellschaftlichen Verlierern.

Die Verheißung des Paradieses auf Erden tröstete die Zeugen Jehovas über die Wirren der Welt – Entwertung ihrer handwerklichen Qualifikationen durch die technischen Entwicklungen beispielsweise – hinweg. In innere Krisen geriet die Religionsgemeinschaft so immer dann, wenn das avisierte Weltende ausblieb. Das war 1914, 1925 und zuletzt 1975 der Fall. Inzwischen hält man sich mit Vorhersagen zurück. Trotzdem sind nach Angaben der Wachtturmgesellschaft weltweit 5,2 Millionen (Deutschland: 170.000) Menschen Zeugen Jehovas.

Ins Visier des Familienministeriums sind die Zeugen Jehovas noch nicht geraten. Aus dem Haus Claudia Noltes wird lediglich vor „sogenannten Jugendsekten und Psychogruppen“ wie der „neosatanischen Geheimloge Fraternitas Saturni“, der „Neuoffenbarungsgruppe Fiat Lux“ oder den Scientologen gewarnt. Ehemalige Zeugen Jehovas protestieren dagegen. „Die Zeugen Jehovas sind eindeutig eine Sekte“, sagt der Bibelaussteiger Stephan Wolf im taz-Interview. Und „hierarchisch“ wie eine Kaderorganisation. Als Machtzentrum der Gemeinschaft gilt die „Leitende Körperschaft“ der Wachtturmgesellschaft im New Yorker Stadtteil Brooklyn. „Die nennen das Theokratie“, warnt Wolf, „für mich ist das aber Diktatur.“ Das Zehnmanngremium gibt die Regeln vor, nach denen die Mitglieder zu leben haben, segnet die Zeitschriftentexte ab – und lenkt die Geschicke der Aktiengesellschaft „Watchtower Bible and Tract Society, New York, Inc.“. Deren Jahresumsatz schätzte die amerikanische Auskunftei Dun&Bradstreet 1991 auf knapp 1,25 Milliarden Dollar. Ihr Geld macht die Religionsgemeinschaft mit Computersoftware und Investmentgeschäften. Die Firma „Zeugen Jehovas“ sei schlicht ein weltweit operierender Finanzkonzern, glaubt Aussteiger Wolf, seine ehemaligen Brüder und Schwestern nichts anderes als billige und willige Arbeitskräfte.

Auch Verfassungsrechtler Christoph Link sieht in der Glaubensgemeinschaft mehr als nur weltfremde Spinnerei: „Die ist totalitär.“ Was Link den Zeugen Jehovas vor allem vorwirft, ist der psychologische Druck, den ihre Funktionäre auf ihre Mitglieder ausüben: „Die disziplinieren mit rigorosen Methoden.“ Ärzte oder Anwälte würden angewiesen, ihre Schweigepflicht gegenüber den Gemeindeältesten zu brechen. Kinder würden mit Schlägen malträtiert, und ständig hätten die Mitglieder „das Damoklesschwert des Ausschlusses“ vor Augen. Einem Abtrünnigen drohe zunächst „die totale soziale Isolation“, so der Jehova-Gutachter. Die meisten reagierten darauf mit schweren Depressionen. Link plädiert eindeutig: Die Zeugen Jehovas dürften nicht vom Staat privilegiert werden. Deshalb hofft er, daß die Beschwerde der Zeugen Jehovas vor dem Bundesverfassungsgericht abgelehnt wird.

Gelassener sieht der Psychologe Werner Gross die Debatte um die Zeugen Jehovas. Der Gutachter der Enquetekommission „Sogenannte Sekten und Psychogruppen“ warnt davor, sich bei der Beurteilung des Ordens nur auf ehemalige Zeugen Jehovas zu stützen: „Die Literatur der Aussteiger ist nicht die endgültige Wahrheit über die Zeugen Jehovas.“

Kleine Religionsgemeinschaften leiden unter der allgemeinen Sektenhysterie seit der Debatte um die Scientologen. Vor diesem Hintergrund bekommt auch der Streit um die Anerkennung der Zeugen Jehovas als öffentlich-rechtliche Körperschaft eine neue Dimension. Historiker Detlef Garbe meint, daß es den Bibelforschern vor dem Bundesverfassungsgericht um mehr als materielle Vorteile geht: „Die wollen das Stigma einer Sekte loswerden.“

Sybil Milton, die am Holocaust Memorial Museum in der US-Hauptstadt Washington zum NS-Schicksal der Bibelforscher arbeitete, weigert sich, das Wort „Sekte“ zu benutzen: „Sektenbekämpfung – diesen Begriff kenne ich nur aus dem Vokabular der Gestapo.“