Die Hauspflege wird zum Pflegefall

■ Das verschärfte Sozialhilfegesetz erschwert die Hauspflege von Behinderten. Verbände sprechen von faktischer „Zwangseinweisung“

Berlin (taz) – Edgar Döll hat noch mal Glück gehabt. Seit seiner Geburt leidet der Kreuznacher an Muskelschwund und braucht Pflege. Dennoch lebt der 37jährige „zu Hause ein relativ normales Leben“. Das sollte nach dem Willen der zuständigen Kreisverwaltung ein Ende haben. Sie wollte Döll ins Heim einweisen.

Dreimal die Nacht muß der Muskelkranke umgedreht werden, damit er nicht wundliegt. Weil ihn sein ambulanter Pflegedienst mehrmals liegenließ, wechselte Döll zu einem neuen Dienstleister. Der aber sollte knapp 1.500 Mark mehr kosten. Zu teuer, entschied der Kreis. Die Alternative Heim sei „zumutbar“. Vor dem Verwaltungsgericht bekam der Kreis recht, Edgar Döll legte Beschwerde ein und erreichte schließlich eine außergerichtliche Einigung. Der Muskelkranke darf weiterhin in seiner Wohnung bleiben, seine Pflege teilen sich vier Dienste, die der Kreis nach Kostengesichtspunkten ausgewählt hat.

Als „einseitig und benachteiligend“ bezeichnet Joachim Faustmann Entscheidungen wie die des Koblenzer Verwaltungsgerichts. „Solche Urteile sind kosten- und nicht behindertenorientiert“, sagt der Sprecher des Verbandes der Kriegs- und Wehrdienstopfer, Behinderten und Rentner (VdK). Immerhin stehe die Gleichbehandlung Behinderter seit 1994 in Artikel 3 des Grundgesetzes.

Davon sei nicht viel zu spüren, kritisieren Behindertenverbände. Seit im letzten Jahr das Bundessozialhilfegesetz geändert wurde, klagen Verbände immer öfter über die Diskriminierung Behinderter. Zwar hat die Pflege zu Hause prinzipiell Vorrang vor der Heimpflege. Ist aber der Heimplatz „zumutbar“ und billiger, kann die Übernahme der Kosten für die ambulante Pflege verweigert werden. Was „zumutbar“ ist, wird häufig vor Gericht entschieden.

Das komme einer „Zwangseinweisung“ gleich, wettern Behindertenverbände. Als „bodenlos und skandalös“ bezeichnet Gisela Bill von der Grünen-Fraktion im rheinland-pfälzischen Landtag die Gesetzesnovelle. Ihre Fraktion hat unterdessen einen Antrag gestellt, in dem die konsequente Anwendung des Grundsatzes „ambulant vor stationär“ gefordert wird. „Wenn schon auf Bundesebene nichts passiert“, so Bill, „müssen eben die Länder die Interessen von Behinderten wahren.“ Über 30 Behindertenorganisationen haben kürzlich in Bad Kreuznach gegen das Bundessozialhilfegesetz protestiert. Unter ihnen war auch Edgar Döll. Uta Andresen