Der unzufriedene Blick vom Deich

Ob Schäfer, Lehrer, Bürgermeister: Immer mehr Menschen an der Elbmündung machen gegen den Nationalpark Wattenmeer mobil. Sie wenden sich gegen die Schutzzonen, treffen aber längst den Naturschutz insgesamt  ■ Von Uta Andresen

Die schon wieder. Die mit ihren Bussen aus Hamburg oder wo die herkommen. Glotzen durch ihre Feldstecher. Hocken da zwischen Nestern und stieren auf die Vogelschwärme. Und das bei Regen. Daß die jungen Austernfischer erfrieren, wenn man die Alten solange aufscheucht, hat denen wohl noch keiner verklickert. Naturschützer. So was Dämliches.

Udo Engel mag den Blick vom Deich. Aber nur auf die ersten paar hundert Meter. Da laufen seine Schafe und Hausgänse und fressen die satten Dithmarscher Salzwiesen ab. Das Land dahinter ist verloren. Durch eine Sturmflut, das hätte Engel akzeptieren können. Damit müssen die Menschen an der Elbmündung rechnen. Aber Landnahme für den Naturschutz?

Ein Graben mit graugrüner Brühe trennt die unbeweideten Salzwiesen von Engels Vorland. Trennt abgegraste Weideflächen von hüfthohen Strandastern und Disteln. „Heydemann-Kanal“ nennen die Neufelder das Siel nach dem ehemaligen Kieler Umweltminister Berndt Heydemann, der die Neufelder Salzwiesen unter strengen Naturschutz stellen ließ. Das war vor fünf Jahren. Seitdem taugt das Rinnsal als ideologische Demarkationslinie.

Ein 800 Seiten dickes Buch, kurz „Synthesebericht“, sorgt in Neufeld für Unruhe. Dort, wo sonst Schautafeln über Flora und Fauna in den Salzwiesen stehen, hängen jetzt Pappschilder mit der Aufschrift „Hier keine Ökospielwiese“. Und das Schild mit der weißen Welle auf blauem Grund – Symbol für den Nationalpark – ist umsichtig aus seiner Verankerung gezogen und liegt nun neben der Pforte zum Deich. Der Nationalpark Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer soll von 273.000 Hektar auf 349.000 Hektar erweitert werden. Das empfiehlt zumindest der Synthesebericht zur Ökosystemforschung Wattenmeer. Das Werk ist Diskussionsgrundlage für eine Nationalpark-Novelle. Über die soll 1999 das Kieler Parlament entscheiden. Und daß dann der Synthesebericht Gesetz werden könnte, paßt den Neufeldern gar nicht.

Dann gehören auch die unbeweideten Neufelder Salzwiesen offiziell zum Nationalpark. „Dagegen muß man etwas tun“, befand Schäfer Engel und gründete im September die „Neufelder Interessengemeinschaft“. 130 Menschen kamen zur ersten Sitzung ins Schützenhaus. Ein Fünftel des Dorfes. Widerstand an der Westküste: In Büsum demonstrierten Schäfer, Jäger und Segler, in Husum ein Kutterkorso der Krabbenfischer, im schleswig-holsteinischen Bauernblatt stand ein Artikel gegen die „rot-grüne Arroganz“ in Kiel.

Der Synthesebericht darf nicht Realität werden. Da sind sich die Menschen an der Elbmündung einig. Die Lehrerin, die um die Sicherheit des Deiches fürchtet. Der Landwirt, der Angst hat, daß nach dem Nationalpark das Biosphärenreservat kommt und er dann von seinem High-Tech-Betrieb auf ökologischen Landbau umsatteln muß. Der Bürgermeister, der unter seinem Dach Ferienwohnungen vermietet und argwöhnt, daß die Gäste wegbleiben, wenn sie nicht weiter als einen Kilometer ins Watt laufen dürfen. Ein Grabenkampf: Geht es nach dem Willen der Menschen an der Elbmündung, verschwinden der Heydemann-Kanal und mit ihm sämtliche „Ökoisten“, die Monat für Monat „einfallen“, um Seevögel zu beobachten. Warum Biologen anreisen, um ihr Spektiv auf den Deich zu stellen, interessiert in Neufeld nur mäßig. Biologen und Umweltschützer wiederum lockt die „Schönheit dieser Landschaft“. Vor allem das Brackwassergebiet in der Elbmündung sei ein einzigartiger Lebensraum. „Das sind die letzten unbedeichten Ästuarsalzwiesen“, schwärmt ein Biologe aus Nordfriesland. Im Neufelder Vorland stehen Brackwasser-Röhrichte, Lebensraum für hochgradig gefährdete Vogelarten, wie die Lachseeschwalbe, von der es weltweit nur noch 80 Brutpaare gibt. Die Hälfte davon brütet in Neufeld. Oder die größte Flußseeschwalbenkolonie des Wattenmeeres mit tausend Brutpaaren.

Eine „Ökowüste“. Sagt Engel. Er habe das Paradies der Tiere noch nicht entdecken können. Zumindest nicht auf den Salzwiesen, von denen Engels Schafe sich fernhalten müssen. Kein Austerfischer, der da brütet. Keine Wildgans, die da äst. Nur der Fuchs verstecke sich zwischen den Disteln und hole sich regelmäßig eine seiner Gänse, sagt Engel, der Schäfer mit rotblondem Bart, Pfeife, Gummistiefeln: „Diese Leute kommen ja nicht einmal von hier. Und die wollen beurteilen, was man wie schützen soll?“ Engel wurde vor 43 Jahren in Neufeld geboren. Geburtsrecht spielt eine große Rolle in dieser Gegend, in der jemand „nicht von hier“ ist, wenn er drei Köge weiter geboren wurde. Engel geht in die Knie und zieht das lange Gras auseinander. „Na, wie sieht das aus“, fragt er. Unter der saftig grünen Oberfläche braun-gelbe Halme. Es riecht nach Humus. „Stinkt nach Moder.“ Engel löst ein Grasbüschel samt Wurzeln aus dem Boden. „Wenn eine Sturmflut kommt, dann werden hier riesige Löcher reingerissen.“ Auch das Gras am Deich sei inzwischen so lang, daß Wühlmäuse und Maulwürfe sich ungestört vermehren könnten. Der Deich – durchlöchert wie ein „Schweizer Käse. Dagegen kommt auch der nicht an.“ Ein paar hundert Meter weiter steht ein Mann mit Schaufel und einem Falleisen in der Hand. Der staatlich angestellte Maulwurfsjäger.

Zwar attestiert das Nationalparkamt dem Neufelder Deich und Vorland eine „ausreichende Scherfestigkeit“, also Sicherheit bei Sturmflut. Aber Engel sähe das Land vor den Deichen gern so wie die Vorgärten in den Kögen. Englisch. Und dafür brauche man nun einmal intensive Schafbeweidung. Denn die Tiere fressen das Gras kurz, treten die Erde fest und sorgen so für eine feinverwurzelte Pflanzendecke.

Noch vor fünf Jahren konnte Engel seine Schafe zu Fuß kontrollieren. Ein Kilometer kurz ist der Deich, vor dem sein Land lag. Ein Fernglas genügte. Dann kam der Heydemann-Kanal, und die seeseitige Fläche, 40 Hektar, wurde unter Naturschutz gestellt. Die Weidegründe vor den Deichen gehören dem Land, das diese den Schäfern für 50 Mark pro Hektar überläßt. Gewissermaßen „umsonst“ sei das Vorland, sagt Engel. Das stimmt nicht ganz; Engel verdient an diesen Flächen: Weil die Beweidung mit 190 Mark pro Hektar von der Europäischen Union subventioniert wird, streicht der Schäfer 140 Mark Subvention pro Hektar Schafweide ein. Von solch günstigem Land hat Engel jetzt weniger als vor der Unterschutzstellung der Salzwiesen. Bis dahin bot das Neufelder Vorland genügend Platz für seine 750 Muttertiere und den Nachwuchs. Für das verlorene Land hat er zwar Ausgleichsflächen bekommen, doch die liegen weit verstreut. Und so fährt Engel jetzt 40 Kilometer in einem ausgeblichenen roten Jetta, um jedes seiner Schafe einmal zu sehen.

Engel schaut auf die Fläche jenseits des Heydemann-Kanals. Disteln und 14.500 Mark Mindereinnahmen im Jahr sieht er dort. Gewinn vor Steuern. Deckungsbetrag. Verluste. Die Beträge kommen im Staccato, Papier braucht Engel schon lange nicht mehr, um seine Misere darzustellen.

Der Neufelder Koog. Auf jedem dritten Acker steht ein Schild. „Wir schützen und erhalten unsere Umwelt auch ohne Druck durch den Synthesebericht“ steht dort. An das Schild ein Galgen genagelt. Die Schlinge baumelt im Wind. Die Bürgerinitiative Neufelder Koog hat ihren Ärger über den Nationalpark kreativ umgesetzt. Kreativität kann im Süden des Landkreises Dithmarschen auch anders aussehen. Für den niederländischen Tierfotografen und einen Vogelzähler aus Schleswig, denen die Autoreifen zerstochen wurden. Für den Biologen aus Husum und den Zivildienstleistenden aus Westerhever, die am Deich von Mitgliedern der Bürgerinitiative des Nachbarortes umringt wurden. „Wenn ihr wiederkommt, dann sind wir nicht mehr so freundlich“, hieß es. Der Biologe erstattete Anzeige wegen Nötigung. Auch gegen Gustav Krey, den Sprecher der benachbarten „Bürgerinitiative Neufelderkoog“.

„Was müssen die da tagelang rumlaufen!“ Bauer Krey sagt das ganz höflich. Kein Bedauern? Aus höflich wird förmlich. „Natürlich“ distanziere sich die Bürgerinitiative von „solchen Vorkommnissen“, sagt er. Diskussionen, Proteste und Plakate seien ihre Mittel. Nichts anderes.

„Gute Begleitmusik“ zu seiner Politik böten die Bürgerinitiativen, sagt Hinrich Kruse. Kruse ist Bürgermeister im Kaiser-Wilhelm- Koog, etwa zehn Kilometer nördlich von Neufeld. Er schiebt aber noch hinterher: „Wir wollen keine Randale hier.“ Kruse vertritt den schleswig-holsteinischen Gemeindetag im Nationalpark-Kuratorium, die Interessensvertretung der Nationalpark-Anrainer, und macht dort Front gegen den Synthesebericht.

Der, der die Unruhe nach Neufeld gebracht hat, sitzt im Nationalparkamt in Tönning. 70 Kilometer sind weit weg. Das macht verdächtig. Martin Stock ist einer der Verfasser des Syntheseberichts und kann das Mißtrauen der Neufelder und ihrer Nachbarn nicht verstehen. Selbst wenn der Nationalpark um das Neufelder Gebiet erweitert würde, ändere sich kaum etwas in der Region, sagt er. Der Deich würde verstärkt, denn: „Küstenschutz geht vor Naturschutz.“ Wer auf ökologischen Landbau umrüstet, entscheide das selbst, auch wenn das Wattenmeer zum Biosphärenreservat erklärt wird. Und das Wattlaufen würde in Süderdithmarschen auch niemand verbieten. Ein Nationalpark locke doch nur mehr Besucher an. Aber das glaube „da unten“ sowieso keiner.

Und so spricht Schäfer Engel über Strategien im Kampf gegen die „Ökoisten“ und darüber, daß man „denen“ schon klarmachen würde, daß man sie „hier“ nicht wolle. „Ein Dithmarscher setzt zum Kämpfen einen Helm auf. Aber er läßt das Visier oben.“ Ganz beiläufig sagt Engel das. Steht am Heydemann-Kanal und kneift die Augen forschend zusammen. Aber es ist nur der Maulwurfsjäger, der seinen Wagen vor dem Schafsgatter abgestellt hat.