Bücherfieber in Hay-on-Wye

Für Bibliophile ist die Stadt an der Grenze zwischen England und Wales ein Paradies: ein riesiges Antiquariat  ■ Von Stefanie Bisping

„Cheap old bibles“ steht auf einer Kiste vor der Ladentheke, „children's books, 30 pence each“ auf einer anderen. Bücher stapeln sich auf dem Boden, in Obstkisten vor den Regalen, die Wände hoch und in den Gängen. Schilder weisen auf versteckte Lichtschalter hin, die in düsteren Hinterzimmern auch am hellichten Tage unverzichtbar sind. Romane, 30 Pence das Stück, vier für ein Pfund, liegen auf einem Treppenabsatz aus. Es geht Stufen hinauf und hinab, um mehrere Ecken, bis ins Kellergewölbe und entlegene Hinterzimmer. Über allem der intensive Geruch alter Bücher.

Es ist alles da, man muß es nur finden

Für Bibliophile ist die kleine Stadt Hay-on-Wye an der Grenze zwischen England und Wales das Tor zum Himmel. Mehr als 20 Antiquariate drängen sich hier auf einer Handvoll Straßen. Jenseits der Londoner Charing Cross Road gibt es nirgendwo in Großbritannien so viele Bücher auf so engem Raum. Und gebrauchte schon gar nicht. Nichts gibt es, was in Hay nicht in einer alten Ausgabe – mal gammelig, mal prachtvoll – zu kaufen wäre. Vor allem Sonntags streben britische und ausländische Besucher von weither über enge, hügelige Landstraßen zum Parkplatz unter der Burgruine, der fast ebenso groß ist wie Hay selbst. Mit fernem bis fiebrigem Blick streifen sie durch die Läden und wühlen sich durch staubige Stapel und Kisten. Sämtliche Novellen von Kleist in deutscher Sprache, Fachliteratur über mediterrane Fische, walisischsprachige Bücher, Arthuriana, englische Klassiker – es ist alles da, man muß es nur irgendwie finden.

Mindestens einen Tag lang muß man stöbern, um sich auch nur einen oberflächlichen Überblick zu verschaffen. Das geht auf kurzen Wegen. Überall stehen in dem 1.200-Einwohner-Städtchen Bücher herum, auch draußen, in Regalen, die oft nur nachlässig durch ein paar Planen gegen den walisischen Wanderregen geschützt sind. Im Schatten der normannischen Burg gruppieren sich ein paar offene Schuppen: der „Honesty Bookshop“, der ohne Personal auskommt. Taschenbücher kosten 30 Pence, gebundene Ware 50, so steht auf einem Pappschild. Und: „Bitte werfen Sie das Geld in den Kasten, nachts in den Briefkasten gegenüber.“ Der Bücherfreund als per Naturgesetz ehrlicher Mensch? Nun, im Honesty Bookshop steht manches herum, was eine Straftat kaum lohnt. Und außerdem ist man ja irgendwie doch unter sich: Der „Lover of letters“ weiß, daß man nicht stiehlt, was man liebt und ehrt.

Die Kassen klingeln in den Straßen rund um die Burg an sieben Tagen in der Woche. Die Buchhandlungen heißen „Bohemian Books“, „Victorian Books“, „Castle Street Books“ und – der größte – „Booth Books“. Der soll den größten Umschlag an antiquarischen Büchern in der ganzen Welt aufweisen und ist nach seinem längst legendären Inhaber Richard Booth benannt, der 1961 mit dem ehrgeizigen Projekt begann, das Städtchen am Fluß Wye zum Mekka für Liebhaber des gedruckten Wortes zu machen. Der „Erfinder“ der Bücherstadt Hay-on-Wye ist natürlich ein Engländer, wie manche Waliser etwas mißmutig bemerken. Und überhaupt: Hay sei trotz seiner zweifelsfreien Grenzlage – der Bahnhof liegt in England, die Stadt selbst in Wales – nicht die Bohne walisisch, sondern absolut englisch.

Richard Booth stammt aus der Umgebung von Hay, studierte in Oxford und beschloß dann, das winzige Waliser Städtchen zu einer internationalen Hochburg für den Handel mit antiquarischen Büchern zu machen. Schließlich sei es, auf halber Strecke zwischen Bristol und Birmingham und auf dem Weg nach Irland gelegen, trotz seiner ländlichen Abgeschiedenheit doch irgendwie zentral situiert, dachte sich der künftige Gigant des Buchhandels. Und zugleich so weit ab vom Schuß, daß London keine Konkurrenz sein dürfte. Das skurrile Konzept ging auf.

Ein Aprilscherz als PR-Gag

Wohl auch, weil Booth Geschick für Öffentlichkeitsarbeit besitzt: So erklärte er Hay am 1. April 1977 zum „Independant State of Hay“ und sich selbst zu dessen Monarchen. Ein Aprilscherz, der Aufmerksamkeit brachte. Solche Aktionen sind heute kaum mehr nötig, um Hay-on-Wye ins Gespräch zu bringen. Richard Booth verhökert eine gute Million Bücher pro Jahr. Und verfolgt weiter das Ziel, in Hay jedem denkbaren Interessensgebiet eine eigene Buchhandlung zu widmen. Science-fiction und Horror, die Geschichte des Transportwesens, Film und Fotografie, Ökologie – jede dieser Sparten ist bereits mit einem eigenen Geschäft vertreten, die Ware natürlich Secondhand, vom Restposten bis zum Sammelstück. Letzteres hat allerdings seinen Preis. „Nicht besonders preiswert“, hat denn auch ein Besucher in dem Gästebuch bemängelt, das im Eingangsbereich der Booth-Buchhandlung für Fine Arts in der alten Burg ausliegt. Fast jeder aber zeigt sich dort beeindruckt von der gewaltigen Auswahl.

Ein Tag des Bücherwühlens hinterläßt Spuren: An den Armen hängen schwere Büchertaschen, ziehen an schmerzenden Schultern. Die Finger sind dunkelgrau, denn das Geschäft mit gebrauchten Büchern ist ein schmutziges. Wenn man die Augen schließt, sieht man Bücherrücken in Regalen. Und ein bißchen benebelt ist man auch. So wie die Schweizerin, die nach getaner Büchersichtung im Pub aufseufzt: „Ich hätte nie gedacht, daß Bücher so stinken können.“