Auf der Suche nach Shakespeare

Sieben Theaterbesuche in fünf Tagen, dazu Ausflüge zu zentralen Pilgerstätten, zwischendrin Vorträge: Ingredenzien eines Kurses zu „Shakespeare and Stratford“. Reichlich Studienräte gehören zur Gruppe  ■ Von Stefanie Bisping

Der Dichter ziert sich. Entweder verzichtete er aufs Tagebuchschreiben oder er versteckte seine Aufzeichnungen geschickt. Und so sind nur biographische Eckdaten über das Leben von William Shakespeare bekannt, der 1564 im marktstädtischen Straford-upon- Avon geboren wurde, mit 18 die 26jährige Ann Hathaway heiratete und mit ihr drei Kinder bekam. Er ging nach London, wo er ein erfolgreicher Theatermann und Stückeschreiber wurde und später mit Schauspieler-Kollegen das Theater „Globe“ baute, kaufte 1597 mit „New Place“ das zweitgrößte Haus in Stratford und kehrte 1611 endgültig in seine Heimat zurück, wo er im April 1615 starb. Mehr wissen wir nicht, zum ewigen Verdruß jedes aufrechten Philologen.

Entsprechend schwierig gestaltet sich die Suche nach den Spuren seines Lebens – wenn in Stratford auch nichts unversucht gelassen wird, aus den fünf Häusern des „Shakespeare Birthplace Trust“, die mit dem Leben Shakespeares verbunden werden, Kapital zu schlagen. Denn wer den Dichter liebt, sucht seine Nähe – in den Straßen Stratfords und im Theater.

Sieben Theaterbesuche in fünf Tagen, dazu Ausflüge zu zentralen Pilgerstätten wie Geburtshaus, Heim der Mutter und Elternhaus der Ehefrau, zwischendurch Vorträge und Diskussionen – das sind denn auch die Ingredienzien des Kurses „Shakespeare and Stratford“. Reichlich Studienräte gehören zur Gruppe, ein paar Studenten und Dozenten und eine Reihe von Leuten unterschiedlicher Altersstufen, die aus rein privater Neigung eine Woche lang in Shakespeare schwelgen wollen. Ein paar Damen in mittleren Jahren, zum Teil ebenfalls Lehrerinnen, zum Teil Hobby-Anglistinnen, sind nicht zum ersten Mal dabei und werden sich in den folgenden Tagen vorwiegend im Insider-Jargon versierter Shakespeare-Fans und Theatergänger unterhalten: „Also Jane Lapotaires ,Gertrude‘ im 93er Hamlet – fantastisch!“ – „Weißt du noch, Ian Judges Inszenierung von ,As You Like It‘“ – „Jaja, haben wir doch damals in London gesehen.“

Nach einleitendem Vortrag über Stadt und Shakespeare-Stätten geht es per Bus zu den außerhalb liegenden Sehenswürdigkeiten, nämlich Ann Hathaways Cottage im benachbarten Dörfchen Shottery und Mary Ardens House in Wilmcote, der Heimat von Shakespeares Mutter. Ann, Shakespeares Zukünftige, wohnte in einem idyllischen strohgedeckten Haus inmitten eines heute blumenüberwucherten, fotogenen Gartens. Ein günstiger Ort für exzessiven Biographismus: In der engen Wohnstube steht eine authentische Sitzbank aus dem Erbe der Hathaways. Saß hier womöglich einst Jüngling William händchenhaltend mit seinem Sweetheart Ann? Diese Vorstellung hat anscheinend schon Generationen von Pilgern beflügelt. Die Sitzfläche sieht ziemlich schadhaft aus, und der Guide vermutet, daß die letzte Privatbesitzerin Touristen gegen einen Obolus Stücke des Möbels herausschnitzen ließ. Die Teilnehmer schütteln die Köpfe – obwohl sich so ein kapitaler Holzsplitter im heimischen Bücherschrank nicht schlecht machen würde.

Anns Schwiegermutter Mary Arden stammte aus einer betuchten Bauernfamilie, wie die Größe des Anwesens und der dazugehörige gewaltige Taubenschlag beweisen. Den letzteren konnten sich zu Zeiten von Königin Elisabeth I. nämlich nur Bessergestellte leisten. Rustikal ging's dennoch zu bei Ardens. Das Feuer brannte auf dem Boden, die Fenster hatten keine Glasscheiben, sondern waren mit Tierhäuten bespannt, so ist von der Führerin zu erfahren. Und: Eine Ehefrau, die das Feuer im Haus ausgehen ließ, durfte der Gatte durch kräftige Schläge an ihre Pflichten erinnern. Betretene Blicke von den Studienräten. Aber der Barde wäre ja wohl kaum zu so etwas imstande gewesen. Noch mehr volkstümliche elisabethanische Wohnkultur tritt zutage: Eine Zimmerdecke war bei Ardens nicht vorhanden, so daß aus dem malerischen Strohdach allerhand Getier auf die Bewohner rieselte. Viele Möbel gab es auch nicht: Der einzige Armsessel war dem Hausherrn vorbehalten, seine Frau konnte froh sein, wenn ihr ein Schemel zugewiesen wurde. Das galt als Zeichen besonderer Wertschätzung. Die Kinder mußten mangels Sitzgelegenheit nicht selten ihre Mahlzeiten im Stehen einnehmen.

Zurück im Shakespeare Centre, das gleich neben dem Geburtshaus des Dichters in der Henley Street liegt, werden die Teilnehmer sogleich mit Handlung und Problematik von „Cimbeline“, dem ersten Theaterstück, vertraut gemacht. Doch nach den kräftezehrenden Besichtigungen fordert allgemeine Schwäche die ersten Opfer: Immer mehr Augen fallen zu. Zwei Stunden bleiben noch für Erholung, „Pre-Theatre-Snack“ und Kleiderwechsel, bevor der Vorhang im Royal Shakespeare Theatre hochgeht. Vorn rechts im Parkett sitzt der Kurs dicht beisammen. Gemurmel in der Pause. Was zur Hölle haben die asiatischen Kostüme in dem archaischen Stück zu bedeuten?

Nach der Vorstellung – welche Shakespeare-Inszenierung wäre jemals unter drei Stunden abgegangen? – ist Eile geboten, damit im Pub „The Dirty Duck“ gegenüber noch schnell Bier und Cider bestellt und Plätze besetzt werden können. Bevor der Schlachtruf „Last orders“ erklingt, stoßen auch die ersten Schauspieler dazu. Doch niemand traut sich, eine Erklärung der fernöstlichen Kostümierung einzufordern.

Tags darauf ist der neue Rhythmus schon fast Routine. Heftig wird über das Stück des Vorabends diskutiert, doch dem Geheimnis der asiatischen Roben kommt der Kurs keinen Deut näher. Allgemeine Ratlosigkeit, dann folgt auch schon der Vortrag über das nächste Theaterereignis: „Die Lustigen Weiber von Windsor“. Eifrig werden Stichpunkte festgehalten, im kleinen Shakespeare-Notizbuch, das im Souvenirshop bei Ardens feilgeboten wurde. Zwischendurch rasch der Besuch des Geburtshauses. Ausgeschildert ist es als „Birthplace“, im Gespräch wird diesem Begriff ein großgeschriebenes „The“ vorangestellt. Ein bißchen, als ginge es an die Bethlehemsche Krippe. Inmitten eines endlosen Besucherstroms drängen sich die Fans des Dichters durch das kleine Haus, in dem außer den schweren Eichenbalken und dem unheimlich knarrenden Holzfußboden – Zeichen von Alter oder Überlastung? – kein Mobiliar der Familie Shakespeare mehr vorhanden ist. Dafür stehen ein paar Stücke herum, die aus der Tudor-Epoche stammen. Stumm verharren alle im mutmaßlichen Geburtszimmer und bewundern die zerkratzte Fensterscheibe – im 19. Jahrhundert durfte man dort sein Autogramm einritzen. Auch Sir Walter Scott und Thomas Carlyle machten von dieser Möglichkeit Gebrauch, wie deutlich zu erkennen ist. Heute darf man nichts mehr anfassen. Verstohlen gleiten Hände über die alten Eichenbalken. Wer weiß, vielleicht hielt sich der Barde gerade hier fest, als er sich anschickte, erste Gehversuche zu unternehmen...

Die Kurs-Routine wächst und mit ihr die Nähe zum Dichter. Wohin könnte man des Abends seine Schritte lenken, wenn nicht in eines der drei Theater unten am Fluß? Die anfänglichen Erschöpfungszustände sind überwunden, bald schon schaffen alle lässig zwei Stücke am Tag – und nicht ausschließlich Shakespeare: Im Theater „The Other Place“ werden die Mysterienspiele aufgeführt, im „Swan“ kommen auch jüngere Dramatiker wie Ibsen und Tennessee Williams zum Zuge. Auch nicht schlecht, obwohl die meisten am liebsten nur Shakespeare sehen wollen. Aber „Hamlet“ ist noch im Londoner Sitz der Royal Shakespeare Company, dem „Barbican“. Die Damen-Clique hantiert mit Terminkalendern, ein weiterer Besuch in Stratford im Herbst ist unumgänglich.

Am vierten Morgen, kurz vor halb zehn, wird der erste Teilnehmer dabei beobachtet, wie er auf dem Weg ins Shakespeare-Centre der Büste des Barden vor der Tür ganz selbstverständlich zunickt. Man ist auf dem richtigen Weg, doch mit dem Besuch einiger Darsteller der Royal Shakespeare Company im Kurs verschieben sich plötzlich die Prioritäten. Auf einmal wird mehr von Jane Lapotaire geschwärmt als vom Barden selbst, dessen Büste nun einen bitteren Zug um den Mund zeigt. Lapotaire, namhafte Shakespeare- Darstellerin und jüngst neben Anthony Hopkins im Kino zu sehen („Surviving Picasso“), spielt die erste verstoßene Ehefrau des Titelhelden in „Henry VIII.“ und berichtet ganz offen von anfänglichen Problemen mit dem spanischen Akzent der Queen Katherine – und von eigenen mißlichen Eheerfahrungen. Solche Vertraulichkeit bleibt nicht ohne Folgen: „Das war das intensivste Erlebnis der Woche“, befindet ein Studienrat aus dem Westfälischen.