Moni's Schlemmerhütte

Was passiert, wenn Feminismus und Kolportage zusammentreffen? Marlene Streeruwitz schrieb mit „Lisa's Liebe“ eine Emanzipationsgeschichte in drei Folgen und entdeckte das Groschenheft als Gegenwartsroman  ■ Von Jörg Magenau

Die Liebe ist der Rückzugsort der Utopie. Wo nüchterner Pragmatismus die Welt regiert, muß Hoffnung im Privaten überwintern. Auch Literatur macht sich dann klein. Aus der Perspektive der späten neunziger Jahre fördern selbst Rückblicke in die heißesten Phasen politischer Bewegtheit nichts als Liebesgeschichten zutage. Ob Friedrich Christian Delius in „Amerikahaus und der Tanz um die Frauen“ aus der Frühzeit der Studentenrevolte erzählt oder der Berliner Szene-Chronist Michael Wildenhain in „Erste Liebe Deutscher Herbst“ von Schleyer- Entführung und Terrorismushysterie: Was ihre Helden motiviert, sind nicht die revolutionären Ideale und schon gar nicht der historische Prozeß. Sie kämpfen mit ihrem Stottern und ihrer Verklemmtheit und sind mit den Frauen beschäftigt. Das Private ist politisch, sicher, aber nur aus Versehen und nebenbei.

Auch Matthias Polityckis „Weiberroman“ buchstabiert die Erkenntnis, daß eine Biographie von Liebesmühen geprägt ist: Was ist der Mauerfall gegen den Auszug der Lebensgefährtin? Was ist die RAF gegen ein nabelfreies Kleid? Bodenkontakt: Die Zeit der Ideologeme, auf die hin Leben sich ordnen ließe, ist vorbei. Das Politische ist privat. Der soziale Realismus der 90er gebiert Liebesromane und sehnt sich nach Wärme.

Die Österreicherin Marlene Streeruwitz hat deshalb nun einen Groschenroman verfaßt – und damit den vielleicht konsequentesten Gegenwartsroman. „Die Gesellschaft ist nicht eindeutig beschreibbar“, sagt sie in ihren „Tübinger Poetikvorlesungen“. „Was beschreibbar bleibt, ist das Leben als exemplarische Schnittstelle aller komplexen Strukturen, die uns bilden, die aber wiederum von uns mitkonstituiert werden.“ Exemplarisches Leben ist bei Streeruwitz – bekanntgeworden mit feministisch getönten Theaterstücken über kleinbürgerliche Gewalt und deformierte Sexualität – immer Frauenleben. „Frauenalltag literaturfähig zu machen“ ist ihr erklärtes Programm. Was dabei herauskommt – ob in ihrem ersten Roman „Verführungen“ oder nun in „Lisa's Liebe“ – ist immer derselbe gepeinigte, peinigende Typus Frau: schüchtern, hilflos und ergeben, verharrend in selbstverschuldeter Unmündigkeit.

Kolportageliteratur funktioniert nach der Formel „Fortsetzung folgt“. Denn Glück ist flüchtig und muß immer wieder neu beschworen werden. Also besteht auch „Lisa's Liebe“ aus drei „Folgen“: dünne, blümchenverzierte Hefte in Rot, Blau, Grün, aufgemacht für den sehnsuchtshungrigen Drehständer an der Supermarktkasse. Der Titel ist in sorgfältiger Schreibschrift gehalten und mit einem falschen Apostroph verziert, wie es sich für echte Erlösungsversprechen gehört, ob in der Literatur oder an ostdeutschen Imbißbuden: Lisa's Liebe; Moni's Schlemmerhütte.

Auf den Titelbildern posiert Marlene Streeruwitz als Lisa. Marlene, das Mädchen aus den Bergen mit langem blondem Haar und sehnsuchtsvollem Blick: Gleich wird der Märchenprinz durchs Tal reiten, und alles wird gut. Marlene im abiturientinnenhaft keuschen, zitronengelben Rolli, immer noch vor der Alpenkulisse. Und schließlich: Marlene als junge Frau mit Haarspängchen und halb geschlossenen Augen vor einem amerikanischen Straßenschild: „W 48 St“.

Warum die Selbstinszenierung als Titelheldin und Covergirl? Ist es Ironie? Die gänzlich unfoucaultische Reinstallierung des Autors als exemplarisches Subjekt? Bekenntnis zum autobiographischen Schreiben? In einem Gespräch mit Elfriede Jelinek (in Emma, Sept./ Okt. 1997) sagt Streeruwitz: „Unsere Arbeit gilt nichts, wenn sie als autobiograpisch erkannt wird. Bei Frauen wird das abgewertet. Das konkrete Wissen einzubauen in das, was sie künstlerisch tun, ist für Frauen eine Gratwanderung. Bei Männern, die ja auch nichts anderes machen können, wird das zur Vergrößerung der Aura des Künstlers eingesetzt und mythologisiert. Dabei sehe ich, daß Frauen wahrer schreiben und daß sie viel

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seltener in die autobiographische Idylle fallen, als Männer.“

Das klingt heldinnenhaft, ist aber pathetischer Unsinn. Auch die männliche, offen oder versteckt autobiographische Literatur dieses Herbstes, von Delius über Christoph Hein bis zu Günter Kunert, ist alles andere als selbstgefällige Idyllik und nicht weniger „wahr“. Und doch: Weil Literatur von Frauen immer noch häufig mit dem Aufkleber „Frauenliteratur“ versehen und als Selbsterfahrungs- und Bekenntnisprosa in gesonderte Regale abgestellt wird (in denen dann auch Hera Lind und Eva Heller zu finden sind), sichert Streeruwitz sich gegen dieses Schicksal ab. Ein Groschenheft ist ein Groschenheft und keine „Frauenliteratur“, und die plakative Inszenierung des eigenen biographischen Materials ist eine Kampfansage – jedenfalls ein ernsthaftes, unironisches Unternehmen.

„Lisa's Liebe“ beginnt ordnungsgemäß banal als Arztroman. Lisa ist 39 Jahre alt, Volksschullehrerin. Sie hat sich in Dr. Adrian verliebt, der ihr jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeit begegnet. Am letzten Tag vor den Ferien überreicht sie ihm eine schriftliche Liebeserklärung. „Bitte. Da.“, sagt sie, fährt in Urlaub und wartet dort auf seine Antwort. Vergeblich. Nichts geschieht. Die Liebe bleibt Illusion. Lisa nimmt statt dessen an einem „Fernlehrkurs für Schreiben“ teil und verfaßt nun seltsame, seitenlange Übungsstücke: Exotisches über einen zigarrerauchenden Diktator, Impressionistisches über Stimmen aus der Kindheit. Schließlich packt sie ihre Sachen und reist nach New York.

Bis dahin aber dokumentiert Lisa jeden Tag in der stillgestellten österreichischen Provinz akribisch mit einer verwaschenen Polaroidfotografie: das Haus, die Berge, die Wiesen, und irgendwo ganz winzig ein Mann mit einem Fahrrad. Darunter der handschriftliche Kommentar: „Der Briefträger taucht hinter den Büschen auf. Er bringt aber keine Post.“ Oder: „Das Wetter ist häßlich. Der Briefträger kommt überhaupt nicht.“ Mehr gibt es nicht zu sagen. Daneben sammelt Lisa Zeitungsausschnitte – Todesanzeigen, Polizeiberichte, Unglücksmeldungen – und klebt sie ins Heft: Artikulationshilfen, um die Sprachlosigkeit zu überdecken. „Ist Schicksal so einfach?“ steht in Schreibschrift unter einem Artikel zum Untergang der Titanic, der vom verlorenen Fernglas des Steuermanns berichtet. Nur deshalb habe er den Eisberg nicht rechtzeitig gesehen.

Ist Schreiben so einfach? Streeruwitz erzählt Lisas Gegenwart als Folge von ereignislosen, durchnumerierten Tagen passiven Ab- und Erwartens. „Hoffnung lag im Weg wie eine Falle“, heißt es in einem Gedicht von Volker Braun über den Sozialismus. Streeruwitz wendet diesen Satz auf private Verhältnisse an und verstellt der Utopie damit auch den letzten Rückzugsraum. „Ich war, auf Sehnsucht programmiert, der Selbstaufgabe verfallen“, sagt sie in ihren Poetikvorlesungen über ihre eigene weibliche, katholische, provinzielle, österreichische Sozialisation, und es ist dieses hartnäckige Muster der Sehnsuchtsverfallenheit, das sie in ihren Büchern wieder und wieder durchexerzieren muß.

Denn in der Wirklichkeit findet sich nichts von den eigenen Wünschen wieder. Die Männer sind – mit einer kurzen, namenlos bleibenden Ausnahme – gräßlich unsympathische Gestalten. Was Lisa mit ihnen erlebte, wird in episodischen Rückblenden erzählt: Mit Dipl.-Ing. und Vizebürgermeister Andreas Knobloch absolviert sie sterile Parkplatzquickies, weil sie immer wieder vergißt, ihm zu sagen, daß es besser wäre, sich nicht mehr zu treffen. Das Rendezvous beim Lehrerkollegen Ebner scheitert an einem umgekippten Weinglas: Ebner konzentriert seine ganze Leidenschaft darauf, den Teppichboden zu säubern und mit einem Föhn zu trocknen. „Bleib doch noch!“ ruft er Lisa über das Dröhnen des Föhns zu. Auch mit Hofrat Schmarantzer, der, von seiner Frau verlassen, nach Ersatz sucht, kommt es nur zu quälenden Peinlichkeiten und schweigendem Suppelöffeln im Kreis der Kinder. Makler Massinger aber fällt so verzweifelt über Lisa her, daß sie ihn gewähren läßt.

Mit Liebe haben Lisas Abenteuer demonstrativ nichts zu tun. Der Titel ist so falsch wie das Genre und dient eigentlich nur dazu, eine drastische Fallhöhe zu erzeugen. Vom trivialen Glücksversprechen läßt Streeruwitz nur die weibliche Selbstaufgabe übrig. Sie erzählt davon in einer schlichten, kindlichen Sprache wie in einem Schulaufsatz. Subjekt, Prädikat, Objekt – ein Satzgefüge, das sie in ihren Poetikvorlesungen als „Angriff“ bezeichnet. „Der vollständige Satz ist eine Lüge“, heißt es da. „Im Entfremdeten kann nur Zerbrochenes der Versuch eines Ausdrucks sein.“ In „Verführungen“ entwickelte sie deshalb eine abgehackte, atemlose Syntax und nagelte zahlreiche Punkte mitten in ihre Sätze – „Punkte als Würgemale“, die „das Schweigen unter der Oberfläche“ sichtbar machen sollen.

Nichts davon in „Lisa's Liebe“. Streeruwitz imitiert nun die Prosa der Groschenhefte, in der es gerade darum geht, die Oberfläche zu glätten. Die Lüge als Prinzip, die Sprache als Schleier. Doch die Gefahr ist groß, daß dabei die Kolportage die Oberhand behält und die „Poetik des Banalen und des Schweigens“ schließlich nur zur Produktion von Banalitäten führt. Während der feministische Blick die Erlösungshoffnung des Trivialromans ins Leere laufen läßt, triumphiert zugleich die Kolportage über den Feminismus und verwandelt ihn in eine Trivialität.

Am Ende besetzt die Emanzipationsbestrebung den Platz der Liebeserwartung. Das ist nicht weniger trivial und eine neue Lüge. Deutlich läßt sich das an Lisas Fotoserie aus New York ablesen. Brav arbeitet sie sich von der 14. Straße bis zur 46. Straße vor, auf jedem Bild ein Straßenschild. Auf die Aneinanderreihung österreichischer Sommertage folgt die Aneinanderreihung numerierter Kreuzungen, auf die inventarisierte Zeit der geordnete Raum: Versuche, dem Leben eine Struktur abzugewinnen. Der Gang in die Freiheit sieht dem Verharren in Passivität zum Verwechseln ähnlich.

Im Arztroman stünde am Ende das glückliche, sich küssende Paar. Das letzte Bild in „Lisa's Liebe“ zeigt einen Sonnenuntergang hinter Palmen und den handschriftlichen Kommentar „Ocean Boulevard. Santa Monica. L.A.“ Vermutlich ist auch das ganz und gar unironisch gemeint. Emanzipation geglückt – Patientin befreit. Wir werden sehen. Fortsetzung folgt.

Marlene Streeruwitz: „Lisa's Liebe“. Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 1997. Drei Bände, 272 Seiten, 34 DM

Marlene Streeruwitz: „Sein. Und Schein. Und Erscheinen.“ Tübinger Poetikvorlesungen. Edition Suhrkamp, Frankfurt/Main 1997, 90 Seiten, 12,80 DM