Leben ohne Zukunft

■ Die Ausgrenzung als Tatsache: Noberto Bobbio läßt in seinem Essay über das Alter keinen Raum für idyllische Vorstellungen

Gestatten Sie mir, dieses Mal nicht als Professor, sondern als alter Mann zu Ihnen zu sprechen.“ Es ist Norberto Bobbio, weit über 80 Jahre alt, der das Wort ergreift. Der große Rechts- und Politikwissenschaftler, in Italien längst eine Institution, spricht über das Alter. Wie vor im Cicero, Montaigne oder Améry nähert er sich dem Thema essayistisch – und zwar im besten Sinne: Im Stile einer Tour d'horizon, präzise die Worte setzend, ohne dabei geschwätzig zu werden, erfahrungsgesättigt, lebensklug und dennoch neugierig.

Bobbio versetzt dem idyllischen Bild von der Weisheit und der Würde des Alters einige harte Schläge. In traditionellen, statischen Gesellschaften gaben die Alten einst das unveränderliche kulturelle Erbe an die folgenden Generationen weiter und genossen deshalb hohes Ansehen. Sie waren Träger eines geschätzten Wissens und wertvoller Erfahrungen. Doch in modernen, auf Wandlung beruhenden Gesellschaften wird „der alte Mensch immer mehr zu dem, der kein Wissen hat“. Was er im besten Alter lernte, repräsentiert später einen überholten Kenntnisstand; seine Erfahrungen werden nicht mehr nachgefragt. Illusionslos konstatiert Bobbio, die Ausgrenzung der alten Menschen stelle heute „eine unabänderliche, unleugbare Tatsache dar“. Keine guten Nachrichten – weder für die langsam vergreisenden westlichen Gesellschaften noch für die alten Menschen.

Allerdings entsteht ein neues Image, das den wohlhabenden Alten zugute kommt. Als „Senioren“ steigen sie zu einer umworbenen Zielgruppe auf, werden zu „Trägern der Nachfrage“. „Das Alter genießen“ – diesen Slogan der Werbung nennt Bobbio verlogen und wendet sich dem realen Dasein alter Menschen zu. Empirische Untersuchungen zeigen: Altersarmut und -verzweiflung dominieren, doch darüber spricht man nicht, um das schlechte Gewissen abzuwehren. Denn natürlich verschärft die wirtschaftliche Situation alter Menschen auch deren psychische Lage. Doch es kommt noch etwas hinzu, und Bobbios Essay gewinnt Tiefenschärfe, weil er auch diese Dimension berücksichtigt.

Die Verzweiflung rührt nicht zuletzt aus der schichtenübergreifenden, existentiellen Disposition des Greisenalters her. Erscheint ein Leben mit 80 Jahren als mißglückt, ist es kaum noch zu retten. Doch selbst ein versöhnliches, wie das Bobbios, der privates Glück erfuhr und noch im Alter von Krankheiten weitgehend verschont blieb, kann der letzten Konfrontation nicht ausweichen. Denn was sieht jemand in diesem Alter, wenn er seinen Blick in die eigene Zukunft richtet? Das Leben ist weitgehend gelebt, als nächstes muß der Tod gemeistert werden.

Für Bobbio, den Verteidiger der Willensfreiheit, ist der Tod der einzige Fall, in dem „wir der Verantwortung für das Geschehene enthoben“ sind. Deshalb bleibt der Tod ein Skandal für die Gattung. Manchmal birgt er allerdings auch versöhnliche Momente, etwa wenn der Sterbende lebensüberdrüssig oder lebenssatt ist und der Wunsch in ihm entsteht, „sich aufzulösen, nicht mehr zu sein“.

Gläubige haben es leichter, weil sie in Erwartung des Jenseits sterben können. Bobbio sieht sich einige der klassischen Jenseitsvorstellungen an und kommt zu dem Schluß, daß es, wie in den Science- fiction-Romanen, eine menschliche, keine überirdische Welt ist, die hier ausgemalt wird. Jeder formt sie „je nach seinen Hoffnungen und seinen Ängsten, je nach den Träumen, die ihn genarrt, und den Alpträumen, die ihn gequält haben, je nach den Lehren oder den Indoktrinationen, die ihn geprägt haben“.

Wer nicht ans Jenseits glaubt, ist auf seine zerbrechliche Existenz zurückgeworfen. Eindrucksvoll beschreibt Bobbio, wie im Alter Körper und Geist langsamer werden. Neues können sie kaum noch verarbeiten. Das früher angenommene Weltbild bleibt intakt und wird auf die Grundmotive reduziert. Zweimal hat der Autor diesen Mechanismus an sich wahrgenommen; er erlebte ihn beide Male als einen Alterungsschub: im Verlaufe der 68er Protestbewegung und nach dem Fall der Berliner Mauer. Den jetzt herrschenden Zustand – räumt er ein –, der die lebenslang gültige Kalte-Kriegs- Welt ablöste, wird er nicht mehr angemessen durchdenken können. Es bleibt zu wenig Zeit...

So treten im Alter melancholische Stimmungen in den Vordergrund: „Die Welt der Zukunft gehört dir nicht mehr. Die Welt der Vergangenheit dagegen ist die Welt, wo du mit Hilfe der Erinnerung zu dir selbst kommen kannst.“ In der Vergegenwärtigung des gelebten Lebens liegt für Bobbio der identitätsstiftende Trost des Alters. Sie wird ihm zur Aufgabe. Gegen die Erstarrung des Todes ruft er sich selbst und anderen zu: „Bleib nicht stehen. Versäume es nicht weiterzugraben.“

Einige Erlebnise dieser autobiographischen Vergegenwärtigungen flankieren den Essay über das Alter. Hier gibt Bobbio Aufschluß über seinen Charakter, seine intellektuelle Biographie und einige seiner Lebensstationen. Ohne die Brillanz und die Tiefe des Haupttextes zu erreichen, runden sie das Bild des Autors ab und beantworten dem neugierig gewordenen Leser die Frage, wie denn das lange Leben dieses wachen Intellektuellen bisher verlaufen sei. Sven Kramer

Norberto Bobbio: „Vom Alter – De Senectute“. Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki. Wagenbach Verlag, Berlin 1997, 96 Seiten, 24,80 DM