■ Haben die Medien den Fall Gollwitz aufgebauscht? Der Umgang mit dem Thema Rechtsextremismus schreibt ein Ritual fest
: Voyeurismus schafft keine Erkenntnis

Sind sie nun antisemitisch, fremdenfeindlich oder normal, die Bürger von Gollwitz, die sich spontan und einhellig gegen die Unterbringung von 50 russischen Juden in ihrem Dorf gewehrt hatten? Oder ist es inzwischen normal, antisemitisch und fremdenfeindlich zu sein? Oder haben die Medien den Bürgerprotest gegen einen „Planungsfehler“ (O-Ton Ministerpräsident Manfred Stolpe) aufgebauscht, um Vorurteile gegen den häßlichen Ossi zu füttern?

Für schlechte Nachrichten die Presse verantwortlich zu machen ist ein beliebter Sport geworden – gerade wenn es um die Berichterstattung über Rechtsextremismus geht. Manche Lokalpolitiker vermeiden gar nicht erst den Eindruck, daß sie „rufschädigende“ Schlagzeilen über ihre Stadt weit mehr stören als rassistische Schläger oder Sprücheklopfer. Und trotzdem ist an der Medienschelte etwas dran. Denn in den letzten Jahren hat sich in der westdeutschen Öffentlichkeit – und die bedient auch die taz – ein reflexhafter Umgang mit dem Thema Rechtsextremismus im Osten etabliert: Man wartet auf den nächsten Überfall oder den nächsten Vorfall à la Gollwitz, fängt ein paar ebenso widerwärtige wie weitverbreitete antisemitische oder rassistische Sprüche der Anwohner sowie ein paar trotzige Rechtfertigungsversuche der Lokalpolitiker ein und sendet oder druckt das Ganze. Die Notwendigkeit, solche Ereignisse öffentlich zu machen, weil solche Zustände nicht zu dulden sind, macht einem voyeuristischen Ritual Platz, in dem alle ihre festen Rollen haben: der Ossi als Rassist, der Ausländer als – meist anonymes – Opfer und der Wessi als Zuschauer, der sich ein bißchen gruseln darf. Das führt zuerst einmal dazu, daß Rassismus und Antisemitismus vom Publikum höchst unterschiedlich quittiert werden: Fast zur gleichen Zeit, als die Gollwitzer zur Rettung ihrer ethnischen und religiösen Homogenität die Reihen schlossen, plauderten Bürger aus dem westdeutschen Stade vor laufenden Kameras leutselig über ihre Tricks und Tips, Sinti und Roma aus der Stadt zu treiben: Besen vor den Geschäftstüren und Pferdefleisch beim Metzger, weil das Tier den Roma heilig ist und sie dessen Schlachtung als Sakrileg ansehen. Der öffentliche Empörungspegel schlug bei den Nachrichten aus Stade weit geringer aus als bei denen aus Gollwitz. Bewußt oder unbewußt – es beruhigt halt, wenn man mit dem Finger immer auf die viel schlimmeren Schwestern und Brüder von drüben zeigen kann.

Dabei ist in den alten Bundesländern gerade in den letzten Monaten zu beobachten, wie in der Politik und der öffentlichen Diskussion eine Schamgrenze nach der anderen abgetragen wird. Damit sind nicht nur Gerhard Schröders jüngste populistische Ausfälle gemeint. Seit Monaten rieselt zwischen den Schlagzeilen über gescheiterte Steuerreformen, wachsende Arbeitslosenzahlen und fruchtlose Rentendebatten ein Dauerregen von Verordnungen, Entwürfen und Innenministerbeschlüssen hernieder, nach denen Abschiebeverfahren gestrafft, die Aufenthaltsgenehmigungen für ausländische Studenten verkürzt und die Arbeitserlaubnisse für ausländische Saisonarbeiter gestrichen werden sollen. In den entscheidenden Fragen trägt die politische Elite unverfroren Inkompetenz und Ohnmacht zur Schau. Handlungsfähigkeit und Engagement demonstriert sie allein angesichts eines angeblichen „Ausländerproblems“. Und von Springer bis Spiegel schreibt man an der Vermengung von Kriminalität und Ausländern kräftig mit.

„Dämonisierung oder Ignoranz“ – mit diesen Worten charaktisierte unlängst ein Westberliner Gewerkschafter, der in Brandenburg ein Bildungszentrum leitet, die Reaktion westdeutscher Kollegen auf seine Beobachtungen einer ganz normalen rechten Alltagskultur, die den Osten vom Westen unterscheidet. Womit wir beim zweiten Problem wären: Voyeurismus weckt selten Erkenntnisinteresse. Das Wissen um Hintergründe und Ursachen eines neuen Rechtsextremismus und Xenophobie im deutschen Osten tendiert im deutschen Westen gen Null – und folglich ebenso die Unterstützung derjenigen, die sich dagegen engagieren. Das öffentliche Entsetzen über das Pogrom von Hoyerswerda hatte seinerzeit noch die Bundesregierung zu einem Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt in den neuen Bundesländern veranlaßt. Mittlerweile sieht man in Bonn kaum noch Handlungsbedarf, denn an die täglichen Übergriffe hat man sich gewöhnt. Selbst wenn Brandenburgs Ausländerbeauftragte Almuth Berger feststellt, daß Ausländer derzeit nur ein „eingeschränktes Leben“ in ihrem Bundesland führen können, stutzt keiner mehr. Vielleicht liegt es ja an der sehr vorsichtigen Formulierung. „Eingeschränkt leben“ heißt tatsächlich, öffentliche Verkehrsmittel zu bestimmten Zeiten zu meiden und „ausländerfreie Zonen“ zu erkennen, bevor man den Baseballschläger im Gesicht hat. In Teilen dieses Landes müssen Menschen mit dunklerer Hautfarbe oder nicht- deutscher Sprache ihren Wunsch nach körperlicher Unversehrtheit mit dem Verzicht auf das Recht auf Bewegungsfreiheit bezahlen.

Womit man bei denen wäre, die im Westen zunehmend zu Tätern – weil potentiell kriminell – stigmatisiert werden und im Osten fast auschließlich als Opfer vorkommen: den sogenannten Ausländern. Ersteres erinnert zunehmend an die Stereotypisierung von jungen schwarzen Männern in den USA, letzteres ist meist gut gemeint aber genauso gefährlich. Medienforscher haben schon lange festgestellt, daß das Stigma des permanenten Opfers beim Zuschauer erst Mitleid und dann eine fatale Schlußfolgerung auslöst, die da lautet: „Wer ständig Opfer wird, muß irgendwo selbst schuld sein.“ Wer nie als Handelnder, immer nur als Mißhandelter auftritt, dem wird kein Respekt entgegengebracht. Vielleicht hätte ja jemand in der zuständigen Kreisverwaltung auf die ebenso revolutionäre Idee kommen können, mit der amtseigenen Autorität, etwas Gesprächsbereitschaft und einigen russischen Juden – Neuankömmlingen wie Integrierten – nach Gollwitz zu fahren und mit den Bewohnern dort zu reden. Die wären sicher nicht begeistert gewesen, aber sie hätten sich nicht einfach hinter dem St.-Florians-Prinzip verbarrikadieren können. Die teilweise extrem voyeuristische Berichterstattung in den Medien dürfte nun maßgeblich dazu beigetragen haben, daß die Gollwitzer ihren Beschluß zurückgenommen haben. Das mag man als Erfolg ansehen, eine Grundlage für die Akzeptanz der jüdischen Flüchtlinge ist das noch nicht. Andrea Böhm