„Ich bin, wie ich bin“

Ostkids träumen von der guten alten Zeit – als die Mauer noch stand, der Pionieralltag schon irgendwie geregelt war und man nichts kaufen konnte. Eine Rezension  ■ Von Jeannette Goddar

Iris fand den Mauerfall total blöd: „Ich kam mir total hilflos, so überflüssig vor, weil, wie die Grenzen aufgemacht wurden, bin ich gleich rüber gucken in den goldenen Westen. Der erste Eindruck war ganz schrecklich.“ Bianca hat sich zuerst total gefreut, tut das jetzt aber nicht mehr, „wegen Lehrstelle und so“, und am liebsten würde sie in Australien wohnen, mit viel Landschaft und Känguruhs. Sara findet, sie werde in der Bundesrepublik „nur ausgenommen“, und angesichts von 1.000 Mark Miete sei es inzwischen irgendwie Wurscht, daß sie 1989 halt auch „rübergegangen ist und rumgestaunt hat“. Ricarda fand es „total toll“, hat im Trabi ihrer Eltern alles erkundet, „wir ham Schokolade, Bananen und so ins Auto rinjeworfen jekriegt“. Alle haben geheult, und sie „wußte im Grunde genommen gar nicht, wat sich dann nun groß verändern soll“.

Jungs gibt's auch: Robert hat eigentlich keinen Bock, hier in der Gesellschaft dauernd zu kämpfen, war eine Weile bei der Antifa, hatte zum Plakatekleben aber auch nie so recht Zeit und findet, daß in der DDR „wenigstens nicht jeder dauernd nur an sich gedacht hat“. Und: „Ich meine, wie viele gute Sachen haben se abgeschafft, bloß weil se aus der DDR waren.“ Als Tom vom Mauerfall erfahren hat, dachte er, die Mauer rund um seine Schule wäre eingestürzt, und ist erst mal ruhig geblieben. „Det Wochenende danach sind wer dann rübergefahren, hab' ick meine 100 Mark inne Hand gedrückt bekommen, dann war die Sache schon erledigt.“ Sein richtiges Vorbild war eh „so'n richtiger Pionier“. Paul fühlt sich auch heute noch als Antifaschist, weil er „das faschistische System ziemlich Kacke findet“, und fand außerdem „das ganze kollektive Zusammensein in der DDR“ ziemlich wertvoll. Beim Mauerfall war er neun, hat angefangen zu heulen, hatte total Schiß vor dem Westen, dachte, „daß die Drogendealer auf den Schulhöfen LSD verschenken“. Zwei Monate lang hat er sich nicht nach Westberlin getraut.

Gemeinsam ist den Jugendlichen, daß sie heute zwischen 15 und 20 sind, beim Fall der Mauer also zum Teil erst 8 waren und daß sie dem gleichen Friedrichshainer Sozialarbeiterteam in die Arme gelaufen sind: „Ich bin, wie ich bin“ heißt eine Sammlung von Texten, Interviews und Fotos, die der „Verband für sozialkulturelle Arbeit“ in Zusammenarbeit mit dem Bezirksamt jetzt veröffentlicht hat. Das hundertseitige Werk, das nicht zuletzt von seinen Fotos lebt, hat drei Teile: „Mädchenprotokolle“, „Jungenprotokolle“ und die gemischten „Freundschaftsprotokolle“. Thema ist so ziemlich alles, was einen – nicht nur in dem Alter – so interessiert: der erste Kuß, das erste Mal, Lehrstellensuche, Techno, Drogen, Eltern. In offenen Interviews quatschen sich die Jugendlichen von der Seele, was der Öffentlichkeit meist nur in gefilterter Form als „Perspektivlosigkeit, mangelndes Bewußtsein, Drogenkonsum“ vorgeführt wird.

„Ich bin, wie ich bin“ ist keine Shell-Studie und will auch keine sein. „Ich bin, wie ich bin“ zeigt ein paar Friedrichshainer Gesichter und läßt die, um die es so oft geht, selbst zu Wort kommen. Fast alle haben Ärger zu Hause, viele wollen überhaupt nicht über ihre Kindheit sprechen. Und mit den eigenen Beziehungen klappt das dann eben auch nicht so. Und fast alle wissen, was sie werden wollen: Stukkateur oder Tierärztin, Grafikdesigner oder Fachverkäufer im Einzelhandel. Wenn da nur die Sache mit den Noten nicht wäre und mit dem Geld. Drogen, vor allem Haschisch und Pillen, sind außerdem an der Tagesordnung – aber auch bei vielen der Wunsch, endlich mal die Finger davon zu lassen.

Spätestens wenn es um die Zukunftsplanung geht, fällt denen, die damals doch so jung waren, wieder die DDR ein. Und auch wenn viele kaum noch wissen, was sie an den Pioniernachmittagen erlebt haben: Geblieben ist die Vision einer sicheren Welt, in der man zwar nichts kaufen konnte, aber sich auch um nichts kümmern mußte – vor allem nicht um einen Job. „Damals jing allet von alleene“ – auch unter diesem Motto könnte der Band stehen. Womit wir wieder bei der Shell-Studie wären: Für 92 Prozent der Jugendlichen ist Arbeitslosigkeit ein großes oder sehr großes Problem. Oder, wie es da heißt: „Die Krisen im Erwerbssektor haben die Jugendphase erreicht, indem sie ihren Sinn in Frage stellen.“

„Ich bin, wie ich bin“ kann bestellt werden beim „Verband für sozialkulturelle Arbeit“, Lindenstraße 40/41, 10969 Berlin, Tel. 2539976, Fax 2539977