■ Deutschlandbilder einer vietnamesischen Schriftstellerin: Über kleinmütige Eßkultur, kleingeschnittenes Gemüse, Ost-West, Nord-Süd und die anspruchslose Geborgenheit von Plattenbauten in der Ex-DDR Von Pham Thi Hoai
: Eine fast perfekte Welt

Der fremde Blick auf die eigene Kultur rückt diese in eine ungewohnte Perspektive. Der deutsche Michel wird vielschichtig. Die andere Sichtweise, nämlich die des „Ausländers“, zeigt dem Inländer andere Werte und Lebensgefühle. Bequeme Schablonen – wie die, daß Vietnamesen Zigarettenmafiosi sind – taugen dann nur noch für den Stammtisch.

Für uns ist der Deutsche kein gefährlicher Fremder, kein Feind. Und für die Deutschen ist Vietnam, abgesehen von seiner Kriegsvergangenheit, nicht weiter interessant. Dem Wink des touristischen Schlußlichts Vietnam folgen Jahr für Jahr nur ein paar unentwegte Globetrotter. Aus dieser Ferne hält die allgemeine vietnamesische Meinung die Deutschen für ein hochstehendes Volk.

Das liegt nicht allein an der D-Mark, denn die ist erst seit einigen Jahren die zweite Währung nach dem US-Dollar im Land. Schon viel früher sorgten Marx, Engels und andere deutsche Namen aus Philosophie, Naturwissenschaft und besonders aus der Musik für Respekt. Ein Beethoven genügte, um Verwirrung und Ehrfurcht zu erzeugen, als hielte die vietnamesische Vogelgesangsprache keine sonstigen musikalischen Leistungen für nötig und möglich. Danach brachten die heimkehrenden vietnamesischen DDR-Absolventen den Glauben mit: Was der Deutsche verspricht, hält er auch.

Während der Chinese von finsterer, undurchschaubarer Natur ist, der Franzose mehr die klangvollen Worte liebt und der Amerikaner einen vielleicht nur als Spielball benutzt, ist auf alles Deutsche Verlaß. Der Made-in-Germany-Mythos verleitet eine halbe Million Hanoier Siemens-Kunden dazu, jedes Jahr pünktlich zum Beginn der Regenzeit ihre zunächst quäkenden und dann bald ganz verstummenden Telefonapparate zur Reparatur zu bringen, anstatt auf Daewoo umzusteigen.

Die fernen Deutschen – für die allermeisten Vietnamesen bilden sie ein höchst positives Volk. In den noch leeren Bilderrahmen paßt die Schlafmütze des häßlichen Michel niemals hinein. Die deutsche Sprache klingt in unseren Ohren unglaublich hart; deutsche Architektur hat keinen Schwung; deutsche Literatur entflammt weder Leib noch Seele; und deutsche Schönheiten sind nicht graziös. Aber alles Deutsche hat seinen würdevollen Ernst. Der sentimentale Vietnamese gerät dadurch nicht ins Schwärmen, in ihm wird ehrfürchtige Bewunderung ausgelöst.

Wer niemals Feind gewesen ist, den schließen die Vietnamesen kaum jemals ins Herz. Wahre Freundschaft entsteht bei uns grundsätzlich auf der Basis von früherer Feindschaft. So haben Chinesen, Franzosen und Amerikaner Zutritt zum trauten Kreis der vietnamesischen Familie erhalten. Die Bewunderung der Vietnamesen gegenüber dem deutschen Volk kann sich nur schwer erwärmen. Daran konnten weder die Ho-Chi-Minh-Rufe auf westdeutschen Straßen noch die ostdeutschen Solidaritätslieder viel ändern, und auch der spontane vietnamesische Eingriff in die wiedervereinigte deutsche Gesellschaft, in Gestalt der organisierten Kriminalität der Zigarettenmafia, konnte höchstens die deutsche Presse ein wenig anheizen. Für die meisten Vietnamesen bleibt es kühl in Deutschland. [...]

Bei aller erfreulichen Änderung lacht die Sonne im Sommer hier selten mehr als im vietnamesischen Winter. Es ist gewiß kein Zufall, daß die Exilvietnamesen – und mit ihnen mehrere andere asiatische Gemeinden – ihre größte Niederlassung auf dem warmen Küstenstreifen Kaliforniens gegründet haben. Wie gut der südländische Vietnamese in Deutschland auch aufgehoben sein mag, vollkommen glücklich ist er hier nicht. Mit Land und Menschen hat das nicht unbedingt etwas zu tun. Im sicherlich ausländerfreundlichen Grönland würde es ein Vietnamese wohl kaum einen Tag aushalten.

Die deutsche Eßkultur ist bunter geworden, dennoch sind Vietnamesen sich nach wie vor einig, einen deutschen Gast mit einem Mahl zu beglücken, sei kinderleicht. Die langweilige Reispapierfrühlingsrolle schmeckt ihm phantastisch. Dazu ein wenig Pfannengerührtes mit knackigem Gemüse, und gelungen ist das Fest. Jedes zehnjährige vietnamesische Kind schafft das im Handumdrehen. Bei den kulinarischen Genüssen der vietnamesischen Küche, ihren Vorlieben für Ausgefallenes und Aufwendiges, Raritäten wie etwa Entenfüße, Karpfenlippen, Pferdehoden, Schlangengalle wird es dem unerschütterlich soliden Deutschen unheimlich. Ausgerechnet dem in seinem Heimatland knapp dem Hungertod entronnenen Vietnamesen erscheinen die Eßgewohnheiten der Deutschen kleinmütig, borniert und keiner näheren Betrachtung wert. Man nehme nur irgendein deutsches Kochbuch. Wimmelt es darin nicht von Anweisungen wie: in der Zwischenzeit das Gemüse putzen und schneiden, mit Salz und Pfeffer abschmecken, mit den Kräutern bestreuen, in portionsgerechte Stücke teilen? Wenn das ernst gemeint ist, hat Abenteuerlust in der Küche nichts zu suchen.

Die vietnamesische Erklärung dafür, daß deutsche Einladungen zum Essen immer lange im voraus ergehen, lautet folgerichtig: Die Deutschen brauchen für die Einkaufsliste mindestens eine Woche, für die Vorbereitung einen Tag – bei Sauerbraten sogar mehrere Tage –, für die Zubereitung einen halben Tag, fürs Tischdecken zwei Stunden, fürs Ins-Gespräch- Kommen weitere zwei Stunden und fürs Aufräumen und Verkraften danach noch mal ziemlich lange. Im Handumdrehen geht gar nichts. So trifft die flinke Leichtigkeit der Vietnamesen auf den langatmigen Ernst der Deutschen, der schlafwandlerische Vietnamese auf den eher viel zu wachen, den nüchternen Deutschen.

Ich wüßte gern, von wem die oft zitierte Feststellung stammt, die Vietnamesen seien die Preußen Asiens. Nichts daran ist wahr. Gründlichkeit und Zuverlässigkeit können kaum zu den Tugenden eines Volkes gehören, das öfter als nötig neu beginnen muß und dabei niemals weiß wie. Es also irgendwie versuchen muß. Betrachtet man Ordnung als des Deutschen Element, dann ist des Vietnamesen trautes Heim das Chaos. Mit dem Sicherheitsprinzip der hiesigen Gesellschaft kann der fahrlässige Vietnamese kaum etwas anfangen. Ginge es nach ihm, können drei Viertel der Verkehrsampeln von den deutschen Straßen entfernt werden. Der deutschen Grammatik würde er eine Lockerungsreform verordnen, denn wozu, bitte schön, lernt man als Ausländer die deutsche Sprache, wenn sie Gehege um Gehege um Gehege errichtet und einen dann mittendrin, vor Sprachunfällen gefeit, festsitzen läßt?

Alle Investitionen dieser Gesellschaft zur Absicherung zukünftigen Wohlergehens erscheinen dem Vietnamesen, der noch nie aus der Not seiner Gegenwart herausgetreten ist, absurd. Das vietnamesisch-deutsche Gespräch will einfach nicht in Gang kommen, das „Mir ist eine Menge zugestoßen“ des einen verträgt sich nicht mit dem „Falls mir etwas zustoßen sollte“ des anderen. Wenn es in der Macht des Vietnamesen stünde, würde der Konjunktiv aus der deutschen Grammatik gründlich getilgt. [...]

Sicher tue ich dem Deutschen unrecht, wenn ich deutsches Handwerk nicht als Handwerkskunst betrachte. Schließlich findet hier jede Schraube ihren Dübel und jeder Dübel seinen Bohrer für exakt das richtige Loch. Allerdings werden in Schweden, Holland, Kanada und anderswo die Löcher wahrscheinlich genauso gebohrt. Vietnamesische Löcher dagegen passen nie und taugen weder zum Handwerk noch zur Kunst. Vergleiche ich diese Welt mit jener Welt, dann rege ich mich über die berühmte deutsche Bürokratie nicht weiter auf.

Auch ich habe schon einmal von einem deutschen Finanzamt eine Zahlungsaufforderung erhalten, einen Säumniszuschlag wegen einer überfälligen Steuerschuld von 0,00 DM zu entrichten. Nur, im heutigen Vietnam wird mir die Steuerbehörde gar nicht erst einen offiziellen Bescheid über einen zu zahlenden Betrag schicken. Statt dessen wird mich eines Abends zur Fernsehzeit jemand besuchen, der sich nicht einmal ausweisen muß. Beim Tee werden Andeutungen fallen. Meine Aufgabe wird es sein, eine angemessene Summe zu erraten. [...]

Und Deutschland ist nicht gleich Deutschland, Vietnam nicht gleich Vietnam. Meine beiden Heimatländer sind gleichermaßen gezeichnet von ihrer Teilung vor nicht allzu langer Zeit, und das deutsche Ost-West-Gefälle wie das vietnamesische Nord-Süd-Gefälle existieren weiter. Ein Deutscher kommt selten auf die Idee, einen Vietnamesen zu fragen, aus welcher Hälfte des Landes er stammt. Das Dritte-Welt-Image nivelliert. Ein Vietnamese dagegen fragt sogleich: Ost oder West? Und er wird das vermutlich auch lange nach der Volljährigkeit der deutschen Wiedervereinigung immer noch tun.

Der vietnamesische Pragmatismus hat den faktischen Verlust der DDR schnell verkraftet. Im heutigen gesamtdeutschen Garten Eden ist der illegale Straßenhandel zwar riskanter, aber auch entschieden lukrativer als das Schuften in den Volkseigenen Betrieben des Ostparadieses von einst. Deutsche Investoren zweifeln zwar noch an der halb freigegebenen Marktwirtschaft Vietnams, Entwicklungshilfe aus Good Germany fließt jedoch bereits und übertrifft die brüderlichen Pflichtrubel der einstigen DDR um ein Vielfaches.

Trotzdem reservieren Nordvietnamesen hartnäckig die größere Hälfte ihrer Zuneigung für Deutschland Ost. Dicke Freundschaften und dauerhafte vietnamesisch-deutsche Ehen sind damit zwar nicht angebahnt, dennoch, die gemeinsame Vergangenheit verbindet. So manch ehemaliges SED-Mitglied vertraut der über 80 Millionen Menschen herrschenden KP Vietnams mehr als der PDS. [...]

Unbeirrt sucht die vietnamesische Gemeinde in Berlin nicht etwa am Ku'damm, im Wedding oder in Kreuzberg Geborgenheit, sondern in den DDR-Plattenbausiedlungen der nordöstlichen Stadtbezirke. Meine Landsleute aus dem Norden bewegen sich prinzipiell im gebrauchten Mercedes auf ostdeutschen Straßen und finden keine gemeinsame Sprache mit meinen Landsleuten aus dem Süden, die im Westen residieren und öfter auch die Bahn oder das Fahrrad benutzen. Ein Nordvietnamese mit westdeutschem Wohnsitz, das wäre Stilbruch. Ausgenommen, er hat seinen Nord-Status 1954, 1975 oder 1989 aufgegeben, im Zuge einer der vietnamesischen oder deutschen Wenden. [...]

Nach insgesamt zehn Jahren in Deutschland kann ich jedoch einiges von diesem Land und seinen Menschen erahnen und habe wohl manches davon sogar verinnerlicht. [...] Deutsche Kleinstädte. Deutsche Bahnhöfe. Deutsche Schaufenster. Deutsche Wartezimmer. Die deutsche Telefonzelle. Deutsche Kneipenstimmung. Deutsche Festansprachen. Deutsche Urlauber. Deutscher Familienbesuch. Deutsche Begrüßungen. Deutsche Versandhausmode. Deutsche Kriminalfilme. Deutsche Eltern, die ihr Kind loben: Das hast du aber fein gemacht. Deutsche Briefe, die in neun von zehn Fällen „mit freundlichen Grüßen“ enden.

Die deutsche Entschuldigung in der deutschen U-Bahn, wenn ein Ärmel versehentlich gestreift worden ist, und die prompte Gegenentschuldigung, gefolgt vom beiderseitigen Lächeln, das gerade so breit ist, daß weitere Berührungen ausgeschlossen werden. In all dem spüre ich ein Verhalten, das sich als vorschriftsmäßige Korrektheit, Ernst und Strenge, als kühle Distanziertheit, gediegene Rechtschaffenheit, biedere Gemütlichkeit, intellektuelle Verschachtelung oder Alltagsnüchternheit präsentiert. Deutsche Ehefrauen scheinen mir weniger hysterisch als Ehefrauen anderswo, deutsche Politiker hüten sich davor, allzu atemberaubende Märchen aufzutischen, und sogar der Rummel des deutschen Boulevard-Journalismus ist nicht allzu zügellos. [...]

Jedes Volk lacht am lautesten über sich selbst, nur oftmals nicht über dasselbe wie die anderen. So wetteifere ich sicherlich nicht mit den Deutschen, wenn mich das klappbare, nicht gerade weiche deutsche Gästebett und das immer kleine deutsche Gästehandtuch erheitern. In meinem Land bekommt der Gast das größte Handtuch, wenn überhaupt Handtücher zur Verfügung stehen. Und wenn er nicht mit der gesamten Familie des Gastgebers in dem einzigen vorhandenen Bett schläft, dann in dem, das am wenigsten knarrt.

Der Deutsche klopft einem Fremden nicht gleich auf die Schulter. Deutsche Kinder fassen meine schwarzen Haare nicht an. Auch in seiner Gastlichkeit scheint der Deutsche zu ständiger Zurückhaltung gemahnt. [...] Noch weniger kann ich mir erklären, warum so viele deutsche Bürger unantastbar anständig als Talk- Show-Game-Show-Publikum artig applaudieren. So etwas kommt in meinem Land nur noch bei Parteitagen und Sitzungen der Nationalversammlung vor.

Doch in meinem Heimatland bin ich nicht mehr zu Hause. Und hier baue ich mein neues Zuhause auf deutsch. Hier singt keiner einfach laut vor sich hin, frei von Alternativstyling und Love-Parade- Management. [...] Ein Fünf-Personen-Wagen ist klar definiert, ein Sechster würde sich strafbar machen. Zwar würde er nicht das Fahrzeug von bester Germany-Qualität überlasten, wohl aber das Hoheitsgebiet der fünf anderen verletzen. Das Leben in der Fremde, für einige von uns eines im Exil, hat an sich schon einen künstlichen Beigeschmack.

Leicht gekürzter Vorabdruck aus: Michael Behrens, Günter Scholz (Hrsg.), „Der häßliche Michel – Deutschland im Spiegel des Auslands“, Bouvier Verlag